Sherlock Holmes ermittelt wieder
Berlin (dpa) - Sein Wartezimmer war leer, und so hatte der junge Arzt Arthur Conan Doyle Zeit und Muße, Kurzgeschichten zu schreiben. Dass er mit dem ebenso genialen wie verschrobenen Detektiv Sherlock Holmes aus dem Stand einen Mythos erschuf, dürfte dem gebürtigen Schotten zu Beginn seiner Autorenkarriere um 1880 herum kaum bewusst gewesen sein.
Das Publikum liebte die Abenteuer von Holmes und seinem treuen Chronisten Dr. Watson so sehr, dass Conan Doyle mit dem Schreiben kaum nachkam und schließlich beschloss, seinen Helden im Kampf mit dem Erzrivalen Moriarty sterben zu lassen. Die Fans waren entsetzt, und nach acht Jahren kehrte der Totgeglaubte im „Hund von Baskerville“ zurück.
Einen Mythos kann man nicht sterben lassen - nach Conan Doyles Tod erschienen unzählige Bearbeitungen, Parodien, Persiflagen, Bühnen-und Filmversionen über den scharfsinnigen Schnüffler und Dandy aus der Baker Street 221 b - bis hin zu Guy Ritchies actionreichem Starvehikel „Sherlock Holmes - Spiel im Schatten“, das gerade im Kino angelaufen ist.
Jetzt legt der britische Drehbuchautor und Romancier Anthony Horowitz mit dem Segen der Nachlassverwalter den ersten „offiziellen“ Holmes-Roman vor, und macht seine Sache gut. Die Fortschreibung ist spannend und temporeich erzählt, das spätviktorianische Zeitkolorit schimmert in allen Facetten, vom tränenrührenden Kinderelend über bürgerliche Moden bis zu adeliger Dekadenz, und natürlich stimmt auch die Arbeitsteilung im Ermittlerteam: „Wenn man Holmes einen Tropfen Wasser zeigte, würde er daraus die Existenz des Atlantiks herleiten. Ich selbst würde mich nach dem Wasserhahn umschauen. Das war der Unterschied zwischen uns“, resümiert Watson einmal leicht resigniert.
Die beiden haben es zunächst mit einem Galeristen aus Wimbleton zu tun, der sich verfolgt fühlt von einem mysteriösen Amerikaner. Als dieser tot in seinem Zimmer in einer schäbigen Absteige liegt, und ein von Holmes als Spion angeheuerter Straßenjunge bestialisch ermordet wird, steuert der von schweren Vorwürfen geplagte Meisterdetektiv in den Strudel eines bis in höchste Kreise reichenden Komplotts, das sich um ein ominöses „House of Silk“ rankt.
In eine Opiumhöhle gelockt und unter Drogen gesetzt, gerät Holmes unter Mordverdacht, landet schwer verletzt im Hochsicherheitstrakt eines finsteren Gefängnisses, und muss um sein Leben fürchten. Wäre da nicht sein treuer, immer etwas biederer Freund Watson, der in diesem Fall über sich hinauswächst.
„Ich bewundere diese Geschichten, und wollte mir keine Freiheiten erlauben“, gestand Anthony Horowitz dem britischen „Guardian“. Auftrag erfüllt. „Das Geheimnis des weißen Bandes“ lässt den Leser so schnell nicht wieder los. Und das Schönste darin ist: Wenn alle Rätsel des Plots gelöst sind und ein sanft melancholischer Erzähler zurückbleibt, hat man unbändige Lust, noch einmal alle 56 Holmes-Geschichten und die vier Romane neu zu lesen.
Anthony Horowitz
Das Geheimnis des weißen Bandes
Insel Verlag Berlin, 351 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-458-17543-8