Vor 200 Jahren starb Heinrich von Kleist

Berlin (dpa) - Die Szene könnte aus seinem düstersten Drama stammen: Mit 34 Jahren zieht es Heinrich von Kleist auf eine malerische Anhöhe am Berliner Wannsee. Nervlich angeschlagen, beruflich enttäuscht und finanziell ruiniert macht der große deutsche Dichter seinem Leben ein Ende.

Eine 31-jährige, schwer krebskranke Freundin begleitet ihn in den Freitod. Zwei Schüsse fallen. „Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“, schreibt Kleist im Abschiedsbrief an seine Lieblings(halb)schwester Ulrike.

Am Montag (21. November) jährt sich der berühmteste Doppelsuizid der Literaturgeschichte zum 200. Mal. In dem Kleistjahr, das Anfang März aus diesem Anlass ausgerufen wurde, hat der Schriftsteller all das, was ihm zeitlebens an Aufmerksamkeit verwehrt wurde, nun im Übermaß erfahren.

Unter dem Motto „Krise und Experiment“ lief in den beiden für seine Entwicklung wichtigen Städten Frankfurt (Oder) und Berlin eine große Doppelausstellung. Allein in der Bundeshauptstadt kamen bisher fast 12 000 Besucher. Das Berliner Maxim Gorki Theater, das erstmals alle seine Dramen auf die Bühne brachte, konnte mit einem atmosphärisch dichten Kleist-Festival rund 10 000 Gäste anlocken. Und zum Abschluss wird der Dichter an seinem Todestag in einer weltweiten Lesung geehrt. Mehr als 130 Institutionen aus aller Welt haben sich inzwischen angeschlossen.

„Das Kleistjahr war ein Erfolg“, sagt Hortensia Völckers, die Künstlerische Direktorin der Bundeskulturstiftung, die die zahlreichen Veranstaltungen mit 2,13 Millionen Euro gefördert hat. „Der Plan ist aufgegangen: Unser breites Angebot hat ein großes Interesse für diesen schwierigen und bewundernswerten Dichter geweckt.“ Und der Intendant des Gorki Theaters, Armin Petras, erklärt: „Wir wollten Kleist für unser Publikum erfahrbar und lebendig machen, das ist uns gelungen.“

Was ist es, was diesen Dichter eine solche Renaissance erleben lässt? Zu Lebzeiten verkannt, gilt er mit seinem radikalen Werk heute als ein Vorreiter der Moderne. „Der zerbrochne Krug“ und „Das Käthchen von Heilbronn“ gehören zum festen Repertoire der Theater. Aber auch seine sperrigeren Stücke und Erzählungen wie „Die Marquise von O...“ und „Michael Kohlhaas“ zählen zur Weltliteratur.

„Kleists Protagonisten sind von deutscher Innerlichkeit und Grübelei frei, sie handeln und scheitern an der Realität, das macht seine Werke bis heute für Leser in aller Welt so attraktiv“, resümiert die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft in Berlin, die sich seit 50 Jahren um die Erschließung des Werks bemüht.

Stefan Hirtz, Gesellschafter der für das Kleistjahr zuständigen Veranstaltungsagentur Artefakt, sieht die von dem Dichter immer wieder durchlebten Krisen und Aufbrüche als Schlüssel für seine heutige Aktualität. „Vielleicht trifft er gerade mit seiner Art, zu leben und zu schreiben, den Lebensnerv unserer Zeit“, sagt Hirtz.

Wie viele seiner Protagonisten, so scheitert auch der preußische Offizierssohn Kleist (1777-1811) letztlich an den Herausforderungen der Realität. In der Umbruchzeit der Napoleonischen Kriege jagt er vergebens Glück und Anerkennung nach - ein Gegenbild zu dem schon zu Lebzeiten so erfolgreichen Dichterfürsten Goethe.

Die Ruhelosigkeit und Umtriebigkeit seines Lebens schlägt sich auch im Werk nieder, das von 1802 an entsteht. Kleist probiert von der Komödie bis zum Ritterspiel jedes Genre, jedes Thema aus. Gemein ist den Stücken von der „Familie Schroffenstein“ bis zum „Prinz Friedrich von Homburg“ die innere Zerrissenheit ihrer Figuren und der Hang zu sinnloser Gewalt.

„Er lebte in einem Zustand dauernder Radikalität“, schreibt der Frankfurter Publizist Peter Michalzik in seiner neuen Kleist-Biografie (Propyläen Verlag). Und in der „Zeit“ urteilte Ulrich Greiner: „Das Besondere an Kleists Genie ist die zur Sprache gewordene Gewalt.“ Tatsächlich sind seine Sätze vorwärtsdrängende, sich überschlagende Wortkaskaden, wie im Stakkato dahingehämmert.

An den Bühnen seiner Zeit kommt Kleist nicht an. Auch die Uraufführung des „Zerbrochnen Krugs“ mit Goethes Hilfe am Hoftheater in Weimar gerät 1808 zum Flop. Kleist sei von einer „unheilbaren Krankheit“ ergriffen, stichelt der erfolgreiche Geheimrat im späteren Streit. Aber auch andere Projekte wie das Kunstjournal „Phöbus“ und die „Berliner Abendblätter“, die erste Tageszeitung Berlins, scheitern.

Nach einem ersten Zusammenbruch 1803 gerät Kleist später immer mehr in die Krise. An seine Cousine und Vertraute Marie von Kleist schreibt er 1811: „Meine Seele ist so wund, daß mir, ich mögte fast sagen, wen ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe thut, das mir darauf schimmert.“ Selbst seine Familie mit sechs Geschwistern und Halbgeschwistern, die immer ein Halt war, nennt ihn jetzt ein „nichtsnütziges Glied der Gesellschaft“.

In dieser Situation lernt Kleist die verheiratete Berlinerin Henriette Vogel kennen. An Gebärmutterkrebs erkrankt, ist sie trotz ihrer kleinen Tochter bereit, das mit ihm zu tun, was andere befragte Frauen zuvor abgelehnt hatten: den Freitod zu suchen. Am 21. November 1811 verbringt das Paar trotz bitterer Kälte noch einen heiteren Nachmittag am Wannsee - bis Kleist irgendwann gegen 16 Uhr zur Pistole greift, Henriette in die Brust schießt und sich selbst mit einem Kopfschuss tötet.

In einem großen Bogen von der Geburt bis zum Tod zeichnete das Kleistjahr den Lebensweg des grandios gescheiterten Genies nach: Die Eröffnung fand im März in seiner Geburtsstadt Frankfurt (Oder) mit dem ersten Spatenstich für ein neues Kleist-Museum statt. Und zum Abschluss wird die neu renovierte Grabstätte am Wannsee übergeben. „Er lebte, sang und litt in trüber, schwerer Zeit“, steht künftig wieder auf dem Stein. „Er suchte hier den Tod und fand Unsterblichkeit.“