Wolfgang Herrndorfs Blog als Buch erschienen
Berlin (dpa) - Im Februar 2010 bekommt Wolfgang Herrndorf die Diagnose: Hirntumor, zu hundert Prozent tödlich. Am 26. August 2013 erschießt sich der Bestsellerautor und Erfinder von „Tschick“ nach einem letzten aussichtslosen Befund mit 48 Jahren am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals.
Über seinen Kampf gegen die Krankheit berichtete er in dem Blog „Arbeit und Struktur“, der jetzt unter gleichem Titel als Buch erschienen ist. Es ist ein ebenso berührendes wie bitter-komisches Dokument von Wut und Verzweiflung, Lebenswillen und Todesangst - ohne jede Larmoyanz mit wunderbarem Humor geschrieben.
„Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem“, fleht Herrndorf nach der ersten Diagnose. Wie ein Wahnsinniger stürzt er sich in die Arbeit. Innerhalb von wenigen Monaten entsteht die inzwischen mehr als eine Million Mal verkaufte Freundesgeschichte „Tschick“, deren angefangenes Manuskript er zuvor sechs Jahre nicht angerührt hat. Schnell darauf folgt der geheimnisvolle Thriller „Sand“, der ihm 2012 den Leipziger Buchpreis und eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis einträgt. „Am besten geht's mir, wenn ich arbeite.“
Doch das funktioniert längst nicht immer. Drei Gehirn-Operationen, zwei Bestrahlungen und drei verschiedene Chemos bringen Herrndorf an den Rand seiner Kräfte. Mit der gnadenlosen Informationsflut aus dem Internet wird er zum Fachmann für die eigene Krankheit - und kann sich oft nur mit schwärzestem Galgenhumor über Wasser halten. „Was Status betrifft, ist Hirntumor natürlich der Mercedes unter den Krankheiten. Und das Glioblastom (Anm.: seine besondere Tumorart) der Rolls-Royce. Mit Prostatakrebs oder einem Schnupfen hätte ich dieses Blog jedenfalls nie begonnen.“
Im zermürbenden Auf und Ab von Arztbesuchen, scheinbaren Hoffnungsschimmern und immer neuen Hiobsbotschaften werden die Freunde unverzichtbar, seine Frau „C.“ ist die engste Gefährtin. „C. geht es beschissen, mir geht es beschissen. Zusammen ist es okay“, notiert er einmal. Aber schon früh wird auch die Suche nach der „Exitstrategie“ eine bestimmende Größe: „Ich muss wissen, dass ich Herr im eigenen Haus bin.“ Herrndorf kauft sich eine Magnum von Smith & Wesson, die ihn fortan begleitet - an den Schreibtisch, ins Bett und schließlich auch am 26. August an den Hohenzollernkanal.
Das Buch unterscheidet sich nur in einigen Ergänzungen vom Blog. Und doch gewinnen die Aufzeichnungen in der gesammelten und gedruckten Form nochmals eine zusätzliche literarische Qualität. Sie lassen den Leser mit ihren fast 450 Seiten von der ersten bis zu letzten Zeile nicht los - nicht im Sinne eines billigen Voyeurismus, sondern als Anstoß zu einer sehr mutigen Auseinandersetzung mit dem Tod.
Herrndorf selbst habe sich schon seit längerem eine Buchfassung des Blogs gewünscht, schreiben sein Lektor Marcus Gärtner und die langjährige Begleiterin und Schriftstellerkollegin Kathrin Passig in ihrem Nachwort. In den Vorgaben dafür habe der Autor ausdrücklich um eine genaue medizinisch-fachliche Beschreibung seines Todes mit dem Revolver gebeten - „für Menschen in vergleichbarer Situation“, heißt es im Nachwort. Denn auch dies ist das Buch: Ein kompromissloses Plädoyer für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod.
Sein Grab wünschte sich Herrndorf auf einem kleinen Friedhof im Berliner Grunewald. „Und, wenn es nicht vermessen ist, vielleicht ein ganz kleines aus zwei T-Schienen stümperhaft zusammengeschweißtes Metallkreuz mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb“, schrieb er fünf Wochen vor seinem Freitod. Das Kreuz steht jetzt dort am Uferweg unter einer Birke. Jemand hat ein paar Herbstzweige daruntergestellt und ein Grablicht. Und es gibt einen wunderbar weiten Blick auf das Wasser.