„Public Warm-up“ Dercons Volksbühne mischt sich unter das Volk
Berlin (dpa) - Der Startschuss für eine neue Ära ist gefallen. Nach Monaten des erbitterten „Kulturkampfes“ um die alte Berliner Volksbühne und ihren neuen Intendanten Chris Dercon wurde am Sonntag tatsächlich der erste Schritt in die Zukunft gemacht.
Zum Auftakt seiner ersten Spielzeit lud der 59-jährige Nachfolger von Frank Castorf zum zehnstündigen kollektiven Tanzerlebnis ein. Die neue Berliner Volksbühne mischte sich sozusagen unter das Volk, für das sie spielen will.
Schauplatz von „Fous de danse - Verrückt nach Tanz“ war nämlich nicht das legendenumwobene Stammhaus des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte, sondern der stillgelegte Flughafen Berlin-Tempelhof. Dort traten rund 200 Tänzer auf, die bei zahlreichen Aufführungen auch das Publikum zum Mitmachen einluden. Die zehnstündige Nonstop-Performance wurde von dem französischen Choreographen Boris Charmatz geleitet. Und Kinder und Senioren, Tanzprofis und absolute Laien machten bei dem Openair-Spektakel bei freiem Eintritt begeistert mit.
Rund 15 000 Besucher zog der Neustart unter freiem Himmel nach Volksbühnen-Angaben über den Tag und den Abend verteilt an. Beim „Verrückt nach Tanz“-Programm ging es am Mittag erstmal mit einem „Public Warm-Up“ los - Aufwärmübungen, die Choreograph Charmatz gemeinsam mit dem Publikum absolvierte. Hochkarätigen Modern Dance, unter anderem von Tanzstar Anne Teresa De Keersmaeker dargeboten, gab es zu sehen. Die teils ohne Musik getanzten Performances verfolgten die Zuschauer auf dem Flugfeld mit viel Interesse und Konzentration.
Schülerinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin zeigten klassischen Tanz mal nicht in Tutu und Spitzenschuhen, sondern in Jeans und Turnschuhen. Bei einer über das ehemalige Flugfeld führenden Soul Train Line war auch das Improvisationstalent des Publikums und mutiger Freestyler gefragt. Break Dance, Hip-Hop, türkische Tänze und Voguing standen neben vielen zeitgenössischen Tanz-Einlagen ebenfalls auf dem Programm.
Dercon und sein Team waren in den vergangenen Monaten von Castorf-Fans und Teilen der Berliner Kulturszene massiv angefeindet worden. Dercons Kritiker befürchten, dass der Museumsmann und Kulturmanager aus dem Repertoiretheater Volksbühne eine „Eventbude“ macht. Sein Tanzspektakel zum Einstand war tatsächlich ein Event - aber eben doch ein kulturelles Ereignis im positiven Sinne.
Nach zwei weiteren Tanz-Premieren von Boris Charmatz hebt sich dann am 30. September im Hangar 5 in Tempelhof der Vorhang für die erste Sprechtheater-Premiere: Die Syrer Mohammad al Attar und Omar Abusaada inszenieren „Iphigenie“ nach Euripides mit Flüchtlingsfrauen.
Erst im November zieht das neue Volksbühnen-Team dann zurück an den Rosa-Luxemburg-Platz ins eigentliche Theater. Und auch erst dann lässt sich wohl beurteilen, wohin Dercon und sein Team die neue Volksbühne steuern - und ob ihr Weg auf Wohlwollen beim Publikum stößt.