ABBA-Songs im Cabaret der Welt Thalia-Theater: Puchers „Tartuffe“ in Hamburg
Hamburg (dpa) - Davon war beim Spielzeit-Eröffnungsempfang im Hamburger Thalia-Theater immer wieder die Rede: von Demokratie und wie man sie in diesen Zeiten von Demagogie und „Fake News“ am besten verteidigt.
Dabei sollten die Bühnen, sagte Kultursenator Carsten Brosda (SPD) am Freitagabend in seiner Ansprache, nicht die Aufgaben der Politik erledigen. Vielmehr wirkten die Kunststätten indirekt: Sie seien „Orte der mimetischen Erkenntnis“, machten die Besucher quasi demokratiefähiger. So weit, so hehr. Bodenständiger hatte es zuvor Joachim Lux, der Intendant des Hauses, auf einen Punkt gebracht. „Wer die Welt verstehen will, sollte versuchen, seine Familie zu begreifen“, erklärte der 59-Jährige.
Und dann ging es auf der großen Thalia-Bühne mit einem Familienstück los - Molières klassischer Komödie „Tartuffe“ von 1664. Die erzählt von einem Titel-Antihelden, der mit Heuchelei, Lug und Trug fast eine ganze Sippe, bei der er sich eingenistet hat, unterjocht. Und zu seinem materiellen - und sexuellen - Vorteil zu benutzen gedenkt. Ähnlichkeiten mit real existierenden Politikern rund um den Erdball nicht ausgeschlossen. Regisseur Stefan Pucher baut einige direkte Spitzen gegen selbstgerechte Verkünder alternativer Fakten in seine vom Premierenpublikum umjubelte Inszenierung ein. Etwa, wenn er Tartuffe (Jörg Pohl) in der Situation eines interviewten Politikers zeigt, der Bla-Bla-Antworten gibt und das Gespräch beendet, wenn es brenzlig wird.
Ansonsten bleibt sein Abend eher bunt und allgemein. Er beschreibt kaum Mechanismen und lässt darüber im Unklaren, warum der Hausvater Orgon (Oliver Mallison) auf den Verführer hereinfällt. Orgon erscheint einfach nur blöd und mit sich selbst beschäftigt. Die Welt, in der das geschieht, ist ein schrilles Cabaret voller vereinzelter Menschen, die als erbarmungswürdige Fashion-Victims daherkommen, Wörter wie „Lakritzstange“ benutzen - und showmäßig jede Menge ABBA-Hits singen. Von „Mamma Mia“ bis „Money Money Money“. Viel hängen sie auch herum auf unbequem wirkenden Stühlen und Sesseln auf einer kleinen Drehbühne. Die sich nur selten dreht und von einem effektvollen kupferroten Rüschenvorhang umgeben ist (Bühnenbild: Barbara Ehnes).
Varietéhaft-lächerlich und knallfarben, mit aufgesetzten dicken Punkten, sind die von Annabelle Witt entworfenen Kostüme der neun Rollenfiguren. Videobilder zeigen immer wieder Szenen aus deren dekadentem Familienleben, in dem die Zofe (Victoria Trauttmansdorff) ihre Herrschaften durchschaut. Pucher (Jahrgang 1965), der ursprünglich aus der freien Szene kommt und bei manchen den Ruf eines „Pop-Regisseurs“ hat, führt Tartuffe bei seinem ersten Auftreten im glanzvoll weiß-goldenen Ornat eines Geistlichen vor, der „What's The Name Of The Game“ intoniert. Um dann angeblich ihm verbliebene Spendengelder an Strafgefangene zu verteilen. Präsentiert wird dann, wie er sich im schwarzen Bürgerfrack an Orgons sexy Gattin Elmire (Lisa Hagmeister) heranmacht.
Nachdem er bereits Anspruch auf dessen Tochter Mariane (Birte Schnöink) erhoben hat, ein leichtgewichtiges junges Ding mit „Dallas“-Fönfrisur, das mit Valère (Bekim Latifi) verlobt ist. Doch nicht nur das: Tartuffe schafft es auch, dass der Patriarch ihm seinen ganzen Besitz samt Haus überschreibt. All das passiert knapp einunddreiviertel Stunden lang in überdrehter Tonart, die an die angesagten Klamauk-Inszenierungen eines Herbert Fritsch erinnert. Am Ende sorgt wie bei Molière Vater Staat für Gerechtigkeit. Der Staatsvertreter, der die Unrechtmäßigkeit der Schenkung und die Strafe für Tartuffe verkündigt, erscheint im altbacken schwarz-weißen Fernsehbild - und wird verkörpert von Jörg Pohl.