Erster Todestag von Christoph Schlingensief
Berlin (dpa) - Ein Opernhaus in Afrika, die Biennale in Venedig, seine Memoiren - Christoph Schlingensief hatte noch unendlich viel vor. Vor einem Jahr starb er. Was ist aus seinen Projekten geworden?
Ein Jahr ist es jetzt her, dass Christoph Schlingensief seinen Kampf gegen den Krebs aufgeben musste. Am 21. August starb der rebellische Theater- und Filmemacher mit 49 Jahren in Berlin. „Ich dachte immer, so jemand kann nicht sterben. Das ist, als ob das Leben selbst gestorben wäre“, sagte die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek damals.
Auch ein Jahr danach sind in der deutschsprachigen Kulturszene Trauer und Betroffenheit noch groß. Fast scheint es, als hätte der frühe Tod des oft auch umstrittenen und angefeindeten Künstlers erst deutlich gemacht, welche Bedeutung seine aufsässige Kreativität für das deutsche Theater hatte.
„Es ist eine Riesenlücke geblieben“, sagt der langjährige Wegbegleiter Matthias Lilienthal, Intendant des Berliner Theaters Hebbel am Ufer, in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. „Christoph Schlingensief hatte etwas völlig Einmaliges, von dem man nicht sagen kann, das wird jetzt durch jemand anderen aufgefangen.“
Besonders spürbar war der Verlust bei der Kunstbiennale von Venedig. Schlingensief hätte eigentlich den deutschen Pavillon für die weltweit wichtigste Kunstschau gestalten sollen. Doch seine Pläne und Ideen waren noch nicht so weit, dass sie sich einfach umsetzen ließen. Statt einer Ausstellung von ihm wurde es eine Ausstellung über ihn, wie Kuratorin Susanne Gaensheimer sagte.
Im Zentrum der noch bis zum 27. November laufenden Schau steht eine Rauminstallation, die in gewisser Weise als eine Quintessenz seines kurzen, leidenschaftlichen Lebens gelten kann: Das szenische Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ hatte schon bei der Ruhrtriennale 2008 für Aufsehen gesorgt. Der damals als geheilt geltende Krebspatient setzt sich in dem Stück schonungslos offen mit seinen Leid-Erfahrungen und den letzten Fragen des Lebens auseinander.
Dass der deutsche Pavillon Anfang Juni mit dem Goldenen Löwen der Biennale ausgezeichnet wurde, war eine posthume Ehrung für den Ausnahmekünstler - auch wenn mancher Kritiker ihn bei der etablierten Großveranstaltung allzu handzahm vereinnahmt sah. „Er hat es nicht verdient, dass ihn alle mit einem Mal ganz furchtbar liebhaben wollen, dass sie ihn heimholen ins museale Reich des Kanonisierten“, schrieb etwa „Die Zeit“.
Am stärksten wird Schlingensiefs Vermächtnis wohl in Afrika lebendig bleiben. Seine Witwe Aino Laberenz (30) versucht dort, unterstützt von einem hochkarätigen Kuratorengremium, seinen letzten großen Lebenstraum eines „Operndorfs“ umzusetzen. „Aber wir wissen auch da, dass wir nicht das Werk von Schlingensief vollenden können“, sagt der beteiligte Berliner Rechtsanwalt und Kunstförderer Peter Raue. „Wir können nicht so tun, als sei das alles eins zu eins die Umsetzung dessen, was er gemacht hätte.“
Dennoch: Im Oktober soll als Teil eins des Projekts in Burkina Faso eine Schule für Kinder aus der bitterarmen Region starten. In der zweiten Bauphase sind eine Krankenstation, ein Gästehaus und Kunststudios geplant. Und als dritter und letzter Abschnitt soll das eigentliche Festspielhaus mit Proberäumen und Werkstätten folgen. „Ein Projekt, wo Kunst und Leben zusammengehen“, so beschrieb Schlingensief selbst die Idee.
Auf seine eigentlich schon für den Herbst 2010 angekündigten Memoiren müssen die Leser indes weiter warten. „Wir haben noch keinen Erscheinungstermin. Das Projekt wird unter der Federführung seiner Witwe fortgeführt“, sagt Gaby Callenberg, die Öffentlichkeitschefin vom Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Das Begleitbuch zum deutschen Biennale-Pavillon „Christoph Schlingensief“ kann allerdings auch als eine Art Lebensrückblick gelesen werden. Freunde und Wegbegleiter nehmen darin nochmals auf eine sehr persönliche Art Abschied von dem großen Theaterprovokateur.
„Schlingensief war eine Ausnahmegestalt, ein Grenzdurchbrecher. Er hat die Spielregeln, die wir uns selbst auferlegt haben, konsequent infrage gestellt“, schreibt etwa der Intendant der Berliner Volksbühne, Frank Castorf. Und der Dramaturg Carl Hegemann resümiert: „Bei Christoph Schlingensief habe ich gelernt, was es heißt, dass man in der Kunst alles machen kann, dass aber trotzdem in der Kunst nicht alles geht.“