Premiere in Hamburg John Neumeiers Tanz der Vergänglichkeit

Hamburg (dpa) - „Das Firmament blaut ewig und die Erde / Wird lange fest steh'n und aufblüh'n im Lenz. / Du aber, Mensch, wie lang lebst denn du? / Nicht hundert Jahre darfst du dich ergötzen. / An all dem morschen Tande dieser Erde!

Foto: dpa

Foto: dpa

Es sind dunkle Gedanken, die Gustav Mahler in seinem „Trinklied vom Jammer der Erde“ formuliert hat. Gedanken vom Abschied von Jugend, Schönheit und Freundschaft, vom nahenden Tod - auf der Grundlage chinesischer Gedichte des achten Jahrhunderts. Das Lied gehört zum ersten von sechs Teilen seiner Sinfonie „Das Lied von der Erde“, die 1907/08 in Südtirol entstand. Während einer tiefen persönlichen Krise, in der Mahler unter anderem den Tod seiner kleinen Tochter zu verkraften hatte.

Von dem Meisterwerk ließ sich Hamburgs langjähriger Ballettdirektor John Neumeier, der bereits Tanzaufführungen zu 15 Kompositionen des Österreichers geschaffen hat, zu einer berührend stimmungsvollen, dabei abstrahierend sphärischen gleichnamigen Choreografie anregen. Die wurde bereits bei ihrer Uraufführung Anfang 2015 in der Pariser Opéra Garnier mit minutenlangem Applaus gefeiert. Auch für die deutsche Erstaufführung am Sonntagabend in der Staatsoper gab es herzlichen Beifall des Publikums. Die beiden Gesangsparts übernahmen der international gefragte Star-Tenor Klaus Florian Vogt und der Bariton Michael Kupfer-Radecky.

Indes pflegt John Neumeier eine viel längere, ihn nach eigenen Worten prägende Berufsbeziehung zu der Sinfonie - hat der 74-jährige Amerikaner doch als junger Tänzer beim Stuttgarter Ballett an einer Choreografie von Kenneth MacMillan mitgewirkt. In seiner heutigen Sicht scheint ein großer silberner Mond auf einen fast leeren Raum, in dem ein Mann in Jeans und T-Shirt mit weit ausgestreckten Armen auf einem schräg aufgestellten, die Natur symbolisierenden Stück Rasen liegt. Eine weiß gekleidete Frau tänzelt herbei, schlägt dann ihre Hände vor ihr Gesicht. Erste, noch sehr zarte Töne erklingen aus dem Graben, in dem Simon Hewett das Philharmonische Staatsorchester fulminant dirigieren wird.

Der Mann räkelt sich, ein zweiter - eine Art Alter Ego - kommt hinzu. Es beginnt voller inniger, fließend eleganter Bewegungen ein durchaus rätselhaftes, die Verse nur selten eins zu eins illustrierendes Ballett, an dem bis zu 30 Tänzer teilhaben. Auf exzellentem Niveau verkörpern sie alle so scheinbar beiläufig wie ausdrucksvoll die Erinnerungen eines Mannes, der noch einmal gute Zeiten an sich vorbeiziehen lässt. Und am Ende wohl bereit ist, zu sterben.

Die Musik dazu spielt oft elegisch, trumpft dann wieder marschartig auf, wirkt auch mal heiter und spielerisch. Als eben beschriebene Solisten ziehen Alexandr Trusch, Karen Azatyan sowie Hélène Bouchet als treue Begleiterin des Protagonisten die Zuschauer in ihren Bann. Die Prima Ballerina könnte Liebesfigur, Mutter, Schicksalsgöttin und schließlich sogar Todesbotin sein.

Derartige Vielschichtigkeit kennzeichnet den Abend, sie erscheint auch abgeleitet von der subtilen asiatischen Poesie. Zu der fühlt sich Neumeier bekanntlich hingezogen - immer wieder lässt er in seinen Choreografien solch zarte, unbestimmte Nuancen aufscheinen, die dem Betrachter weiten Raum für eigene Empfindungen und Deutungen lassen. Auch bei diesem „Lied von der Erde“ arbeiten etwa der Bühnenbildner Andreas Weiland und die Kostümverantwortliche Eva-Maria Weber sehr fein und ästhetisch mit Farben. So tauchen sie ein jugendfrohes Blumenpflücken vor einem Teehaus in ein hinreißend leuchtendes Kupferorange. Der Mond, weltweites und uraltes Symbol für die Nachtseite des Lebens, scheint mal hell und kalt, mal pastellig sanft, immer wieder tiefgeistig blau.

Als am Ende des langen sechsten Teils „Der Abschied“ die Figuren von der Erde zu kriechen scheinen, bleibt einzig Hélène Bouchet - wieder im weißen Gewand - wie auf ewig aufrecht stehen. Als ein Triumph der Liebe über die fließende, vergängliche Welt?