Kunst des unendlichen Raums
Das Wilhelm-Lehmbruck-Museum zeigt den ersten Überblick über Vantongernloo.
Duisburg. Christoph Brockhaus, der begnadete Chef des Wilhelm-Lehmbruck-Museums, kehrt mit seiner letzten Ausstellung zu seinen Anfängen zurück. Er hatte vor rund 30 Jahren den Kölner Wilhelm Hack in Ludwigshafen kennengelernt und sich von dessen internationaler Konstruktivisten-Sammlung begeistern lassen.
Im Laufe seiner Ausstellungstätigkeit in Köln und seit 1985 in Duisburg feierte Brockhaus die wichtigsten Stars der konkreten Kunst ab. Nur einer fehlte: Georges Vantongerloo (1886-1965). Nun zeigt er, zum eigenen Abschied, die erste große, herrliche Retrospektive des vergessenen und verkannten Künstlers. Es ist eine Entdeckung.
Der in Antwerpen geborene Künstler gehört zu den Mitunterzeichnern des ersten Manifestes von De Stijl und damit zu den Pionieren der abstrakten Kunst. Wie Mondrian begann er figurativ. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und die Auseinandersetzung mit dem Philosophen Baruch de Spinoza brachten ihn zur Mathematik, die eine große Rolle in seiner Kunst spielen sollte.
"Man muss ständig auf das Unendliche abzielen", behauptete er 1943. Um dieses Motto seines Lebens zu verstehen, sollte man den Gang durch die Ausstellung mit dem Spätwerk des Künstlers beginnen. Da löste der "letzte, halbverlorene Sohn des 20. Jahrhunderts", wie ihn Brockhaus nennt, seine Visionen ein: Er verabschiedete sich von rechtwinkligen Kompositionen und malte an- und abschwellende Kurven.
Vor allem aber entstehen nach 1945 Drahtskulpturen und erste Plexiglas-Objekte, in denen er die "größte Revolution des 20.Jahrhunderts" auslöst, wie Brockhaus behauptet. Er dringt mit seinem Werk in den Raum.
Zwar führte er im Gegensatz zu seinen berühmten Kollegen Mondrian und Theo van Doesburg das Leben eines völlig mittellosen Einsiedlers, der sich kein Telefon leisten konnte, dennoch riss der Kontakt zu den Wissenschaftlern seiner Zeit nicht ab. Er beschäftigte sich mit Kernspaltung, Strahlung, Relativitätstheorie und der Krümmung des Raums im All. Endlich fand er Chancen, seine Vision in kleinen Objekten dinghaft zu machen.
Da hängt eine Spirale von der Decke in Duisburg, die sich bei der geringsten Bewegung dreht. Es schlängelt sich ein Blech vom Podest empor, gewinnt durch Drehungen und Wendungen ein Volumen und nimmt Künstler wie Norbert Kricke voraus. Ein "Vektor" ist eine Schlinge, die zu sich selbst zurückkehrt und zugleich Farbe im Raum ist. Er benutzt das nach dem Krieg in Mode kommende Plexiglas und arbeitet mit dessen prismatischen Effekten.
"Kunst ist das Maß aller Dinge", hatte Wilhelm Lehmbruck gesagt. Der früh verstorbene Lehmbruck und der junge Vantongerloo sind eines Geistes. Im großen Raum, der dem Werk der 20er und 30er Jahre gewidmet ist, lässt sich spüren, wie Vantongerloo vergeblich versuchte, seine systematischen, mathematisch durchdachten Konzepte verwirklichen zu können. Vergeblich kämpfte er gegen die Surrealisten.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er nicht nur kleine Modelle, sondern ganze Stadtzentren gebaut. Am liebsten wäre er ein Architekt von Flughäfen in Frankreich oder Belgien geworden. Die Gesetze des Universums hätte er gern auf ein konkretes Umfeld übertragen. Seine kleinen Modelle berichten von Wolkenkratzerstädten und Anflug-Rampen.
Die Plattform für seine Landeplätze wollte er auf stählernen Konstruktionen bauen, die an Rumpfstücke des Eiffelturms erinnern. Er dachte Städte in Kuben, Flughäfen in Tunneln und gewaltigen Fußgängerbrücken. Er schickte seine Ideen in Bettelbriefen an belgische und französische Behörden. Doch er erhielt weder Antwort noch Auftrag. Das einzige, was er realisierte, war eine klitzekleine Bar.