Auftakt der Ruhrfestspiele Langer Applaus für den „Sandmann“ in Recklinghausen

Recklinghausen (dpa) - Diesen Figuren möchte man nicht in seinen schlimmsten Alpträumen begegnen. Weißgeschminkt mit schwarz umrandeten Augen, die Haare stehen ihnen zu Berge, die Gesichter fratzenhaft und in stummen Schreien erstarrt.

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Der US-Starregisseur Robert Wilson ist wieder am Werk gewesen. Der 75-jährige Meister der Verfremdung hat sich diesmal das Schauermärchen „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann vorgenommen.

Aus der schwarzromantischen Erzählung machte Wilson ein ohrenbetäubendes Rockspektakel mit mächtigen Bildern und der wuchtigen Livemusik der britischen Singer-Songwriterin Anna Calvi. Die Premiere - eine Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus - wurde am Mittwochabend zum Auftakt der Ruhrfestspiele in Recklinghausen vom Publikum mit minutenlangem Applaus gefeiert.

Ausgangspunkt der 1816 erschienenen Erzählung Hoffmanns ist die Gruselgeschichte vom Sandmann, der Kindern, die nicht schlafen wollen, so lange Sand in die Augen streut, bis sie blutig aus dem Kopf herausspringen. Diese „Gutenacht“-Geschichte bekommt der kleine Nathanael allabendlich von seiner Mutter serviert. Auch am Tod seines Vaters, eines Alchemisten, müsse der Sandmann Schuld sein, glaubt er. Noch als Student treibt Nathanael die Schauermär um. Er verliebt sich in Olimpia, eine Automaten-Frau aus Holz und Wachs. Erst als der Holzpuppe die Augen ausgerissen werden, erkennt Nathanael, dass er einen Automaten liebt. Er verfällt dem Wahn und stürzt in den Tod.

„Schöne Augen“ machen, blind vor Liebe sein, die Augentäuschung - das Leitmotiv der düsteren Erzählung wird durch Wilsons kunstvolle Bildsprache und tausend Augen auf der Bühne potenziert. Selbst der Vollmond ist ein Augapfel. Wilson liebt das Marionettentheater, den Stummfilm und das maskenhafte japanische No-Theater. Die Anleihen bei seiner grotesk-gruseligen und doch humorvollen Version des „Sandmanns“ sind offensichtlich. „Ich hasse Naturalismus“, sagte der texanische Bildermagier im Vorfeld der Premiere.

Seine Figuren tanzen, trippeln wie Puppen und Balletttänzer. Sie bewegen sich zeitlupenlangsam, dann wieder zuckend wie vom Teufel befallen. Sätze und Gesten werden automatenhaft unablässig wiederholt. Die Aufziehpuppe Olimpia, in ihren abgehackten Bewegungen eindrucksvoll getanzt von Yi-An Chen, verkörpere all seine Ideen über das Theater, sagte Wilson und bezieht sich auf Andy Warhol, der sagte: „Ich möchte eine Maschine sein.“

Die aufwendige Musical-Inszenierung verlangt dem Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses - dort ist die Produktion ab 20. Mai zu sehen - alle Kräfte ab. Herausragend ist der Schauspieler und Musiker Christian Friedel mit einem flammengleichen Rotschopf in der Rolle des kleinen Quengel-Nathanael und des wahnsinnigen erwachsenen Nathanael. Ebenso wie Rosa Enskat, die Nathanaels Mutter mit einer umwerfend kühl-bizarren Komik spielt, schraubt auch Friedel seine beachtliche Stimme in opernhafte Höhen. Starke Duette und Balladen in Ohrwurmqualität setzen Kontrapunkte zur düsteren Handlung - immer wieder gibt es Szenenapplaus.

Für Augen und Ohren ist der „Sandmann“ eine Herausforderung: Jedes Geräusch, sei es ein Türenklappen, Klopfen, trommelnder Regen oder auch einfach ein angedeuteter burlesker Furz, wird durch Verstärker auf durchdringende Lautstärke gebracht. Assoziationen zum Krieg kommen auf, als nach dem Tod von Nathanaels Vater Salven wie aus Maschinengewehren über die Bühne peitschen.

Wilson hat seinen Hang zur schwarzen Romantik seit seiner legendären „The Black Rider“-Inszenierung nach der Legende vom „Freischütz“ Anfang der 90er Jahre bewahrt. Bei aller Künstlichkeit ist das Bildertheater Wilsons hochemotional und geht - auch dank Calvis eingängiger Musik - unter die Haut.