Thomas Manns Marathon
„Joseph und seine Brüder“ am Düsseldorfer Schauspielhaus begeistert trotz einer Dauer von fünfeinhalb Stunden.
Düsseldorf. "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit." Mit diesen Worten beginnt Thomas Manns vierteiliger Roman "Joseph und seine Brüder". Das 1600 Seiten starke Werk hat John von Düffel nun für das Düsseldorfer Schauspielhaus dramatisiert, das weltgeschichtliche Epos auf knapp 130 Seiten verdichtet. Trotzdem dauert die Theaterfassung in der Regie von Wolfgang Engel noch gut fünfeinhalb Stunden (inklusive zwei Pausen). Erschöpft und etwas sitzmüde bedankten sich die Zuschauer am Ende jedoch mit zahlreichen Bravos und ekstatischem Beifall für dieses intensive Theatererlebnis.
Neben der Leistung der Schauspieler hat auch das Bühnenbild von Olaf Altmann großen Anteil an dieser Intensität. Er baut eine Art hölzerne Arena auf die Bühne des Großen Hauses. Der eiserne Vorhang bleibt geschlossen, das Publikum sitzt um die quadratische Spielfläche, in der die Figuren wie Gladiatoren aufeinander treffen. Vier Hubpodien können auf- und abgefahren werden, suggerieren Bewegung und Wandel, geben Einblick in Abgründe und Unterwelten.
Nur etwa 375 Zuschauer finden hier Platz, sind dafür immer ganz nah dran am Geschehen, das die biblische Geschichte des hochmütigen Joseph erzählt, der als Lieblingssohn seines Vaters den Hass der Brüder auf sich zieht. Sie verstoßen ihn brutal, und er wird als Sklave nach Ägypten verkauft. Damit beginnt seine Odyssee.
Doch eigentlich fängt alles noch vorher an - mit der Geschichte seiner Väter. Denn laut Thomas Mann ist jedes Individuum nicht streng begrenzt, sondern "nach hinten offen", das heißt eine Summe der Erfahrungen vieler Jahre. Wie die Jahresringe im Holz der nackten Bühne trägt jeder Mensch die Narben der Vergangenheit.
Der Abend beginnt somit mit Jaakobs Geschichte, dem Vater Josephs. Vor allem am Anfang, wenn die Handlung in den Zeiten hin- und herspringt, der energetische Michele Cuciuffo mal Joseph, mal den jungen Jaakob spielt, greifen viele Zuschauer zum Programmheft, das einen Stammbaum der Familie Abrahams abbildet.
Auch die begleitenden Essays und Ausführungen der Produktionsbeteiligten helfen bei der Orientierung in dem schwergewichtigen Mythos, um der Geschichte von Rache und Verrat, Liebe und Zufall, Aufstieg und Fall zu folgen.
Wolfgang Engel, langjähriger Intendant des Schauspiels Leipzig und Spezialist für die Aufarbeitung großer Stoffe, verzichtet auf jegliche naturalistische Bebilderung, sondern konzentriert das Spiel ganz auf die archaische Wucht der Sprache und auf das hervorragende Ensemble.
Jeder spielt mehrere Rollen, was die Wiederholungen der Geschichte unterstreicht. Denn bestimmte Motive und Situationen kehren immer wieder, etwa die Vater-Sohn-Beziehung, die sich so von der Familienstory zur Menschheitsgeschichte überhöht.
Das zärtliche Verhältnis von Joseph (Michele Cuciuffo) zu seinem Vater (Michael Abendroth) spiegelt sich auch bei Joseph und dem Hausverwalter Mont-Kaw, den ebenfalls Abendroth spielt. Seinen erneuten Aufstieg erlebt Joseph in Ägypten im Hause des weisen Potiphar (Wolfram Rupperti), dessen Frau Mut (Janina Sachau) ihn mit Hilfe des intriganten Zwergs Dudu (Guntram Brattia) in ihr Liebesspiel verwickeln will.
Sachau ist die einzige Frau in diesem reinen Männerensemble, denn die Frauen von Jaakob, Lea und Rahel, werden verfremdend von Matthias Leja und Milian Zerzawy gespielt.
Ergeifend wandelt sich Joseph bei seiner Suche nach Gott und dem eigenen Ich vom naiven und hochmütigen Jüngling zum klugen Vertreter des Pharaos, der am Ende sogar seinen Brüdern vergeben kann. "Was ist, das ist. Was war, das wird sein." Die Vergangenheit spielt eine Rolle in unserer Zukunft, die humanistische Utopie des Vergebens bleibt jedoch zeitlos.