Interview „Der Koran ist das verbindende Element“

Düsseldorf · Der Sozialwissenschaftler Klaus Spenlen über junge Muslime, ihre Vielfalt und die Schwierigkeiten mit dem deutschen Bildungssystem.

Muslimsein als Teil der Identität: Ein Junge studiert im islamischen Religionsunterricht ein Schulbuch.

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Vor einem Jahr hat Klaus Spenlen das Buch „Schule und Islam - Wie sich 90 Alltagskonflikte lösen lassen“ (VBE-Verlag NRW) herausgegeben. Nun hat der Sozial- und Erziehungswissenschaftler mit „Wie ticken junge Muslime?“ (dup/De Gruyter) ein Nachschlagewerk mit 100 Antworten auf Fragen von Kitas, Schulen und der Jugendhilfe folgen lassen. In beiden Werken geht es ihm darum, „dass Pädagogen Muslime besser verstehen und Muslime erwarten können, besser verstanden zu werden“. Ein Gespräch darüber, woran es noch hakt.

Herr Spenlen, wenn man Ihren Buchtitel „Wie ticken junge Muslime?“ zugrunde legt: Ticken junge Muslime an vielen Stellen anders als junge Nichtmuslime?

Klaus Spenlen: Nein, absolut nicht. Ich könnte auch sagen: Junge Muslime sind selbst sehr divers. Jungen, Mädchen, Frauen, Männer, Aufenthaltsstatus, Aufenthaltsdauer, Herkunft, einheimisch oder Migrant – das und noch andere Dinge spielen eine erhebliche Rolle. Aber das verbindende Merkmal ist der gelebte Glaube. Deshalb habe ich den Lesern zugemutet, von jungen Muslimen zu sprechen, und meine damit ausdrücklich nicht Islamisten.

Anders gefragt: Wie relevant ist für junge Muslime noch ihr Muslimsein?

Spenlen: Beim Praktizieren des Glaubens wäre ich vorsichtig. Aber als Identitäts- und verbindendes Merkmal ist es sehr relevant.

Junge Muslime in Deutschland haben zwar in der Mehrzahl türkische Wurzeln. Aber es gibt darüber hinaus eine große internationale Spannbreite. Ist es für sie alle leicht, einen gemeinsamen Nenner zu finden?

Spenlen: Der Koran ist das verbindende Element. Alle Muslime lernen die rituellen Gebete in Arabisch. Ob sie das sprachlich verstehen, ist eine andere Frage. Aber es ermöglicht ihnen, über Sprachgrenzen hinweg wahrzunehmen: Wir gehören zusammen.

Ihr Buch basiert auf Fragen, die Ihnen bei Vorträgen und Veranstaltungen quer durch das Bildungssystem begegnet sind. Fangen wir beim Kindergarten an: Was sind dort klassische Konfliktsituationen, in denen es Erzieherinnen hilft zu wissen, wie junge Muslime ticken?

Spenlen: Viele Erzieherinnen wissen nicht wirklich, wie der islamische Glaube praktiziert wird, welche großen Feste es gibt, zu denen die Kinder frei haben müssen, und welche gemeinsamen Riten sie verbinden. Meine Erfahrung ist, dass noch immer zu viele Kita-Kräfte ziemlich uninformiert sind.

Verändern sich die Anforderungen und Fragen in der Grundschule?

Spenlen: Ja. Die Grundschule ist der Schmelztiegel für Sechs- bis Zehnjährige. Manche Kitas sind zum Teil noch konfessionell organisiert, aber das hört mit der Grundschule auf.

An der weiterführenden Schule trennen sich oft die Wege und Deutschland wird sehr dafür kritisiert, dass hier die Herkunft noch viel zu sehr den Bildungserfolg bestimmt. Ist das der Moment, an dem Muslime ihre kulturelle und religiöse Identität als Ausgrenzung empfinden?

Spenlen: Auf jeden Fall: als Ausgrenzung, als Ablehnung, als Makel, als Bildungserschwernis.

Wie ist Schule davon betroffen?

Spenlen: Ich greife zwei Punkte heraus. Das eine ist die Humankapital-Theorie. Dahinter verbirgt sich die Frage, was Eltern ihren Kindern mitgeben können. Das ist in vielen Migrantenfamilien eingeschränkt, auch was die Wohnsituation betrifft. Viele Kinder haben keinen eigenen Arbeitsplatz, keinen Computer, keine Bücher, viele Eltern verfügen nicht über die Bildungskarriere, mit der sie ihren Kindern helfen können. Das Zweite sind Vorurteile und Erfahrungen von Lehrkräften, zum Beispiel in der Frage der Empfehlung für die weiterführenden Schulen. Das Kind wird als gut eingeschätzt, aber dennoch gibt man ihm nicht die Empfehlung Gymnasium, weil man weiß, dass der erste Punkt dazu führen kann, dass die Bildungskarriere des Kindes dann doch einen Knick bekommt und es am Ende in eine andere Schulform wechseln muss.

Man antizipiert die Schwierigkeiten, die es geben könnte, und geht daher den vorsichtigeren Weg?

Spenlen: So ist das – mit der Begründung, wir hätten ein durchlässiges Schulsystem.

Was sich am Ende aber oft auch nicht bewahrheitet.

Spenlen: Ganz sicher nicht. Jeder, der Kinder hat oder mit ihnen arbeitet, weiß, dass mit 13 oder 14 Jahren ein Knick erfolgt. Dann gucken die meisten Schüler nicht mehr zielgerichtet auf ihre Abschlüsse und Noten.

Sie sind seit Jahren in der Aus- und Fortbildung tätig. Hat sich da bei den Fragestellungen zu Muslimen etwas verändert?

Spenlen: Mich wundert, dass die Kopftuchfrage über all die Jahre eine Konstante ist, genauso wie die Schulbefreiung etwa für ein Beschneidungs- oder Opferfest. Neu ist, dass die Lehrkräfte seit dem Beginn der Flüchtlingskrise Verhaltensfragen, einen rüden Ton und diskriminierende Ansprachen von Migranten gegenüber Lehrerinnen thematisieren.

Ist denn die Kopftuchfrage ein relevantes oder ein überschätztes Thema?

Spenlen: Da muss ich mit einem kräftigen Sowohl-als-auch antworten. Einerseits halte ich es für vollkommen überschätzt, weil die Anzahl der Kinder, die ein Kopftuch tragen und damit verbunden auffällig sind, verschwindend gering ist. Es gibt heute viel mehr 16- bis 17-jährige Mädchen, die damit spielen, also bauchfrei, aber mit Kopftuch herumlaufen, was innerhalb des Islam ein Widerspruch ist. Da ist das Kopftuch ein Modeaccessoire. Auf der anderen Seite kommen jetzt verstärkt, aber immer noch in ganz geringer Zahl, Kinder mit Kopftuch in die Grundschule. Und dafür gibt es auch keine islamische Grundlage.

Erkennen Sie über die Jahre einen Integrationsfortschritt?

Spenlen: Im Bildungsbereich sehe ich ganz klare Fortschritte. Die zweite und dritte Generation sind vom formalen Abschluss her deutlich gebildeter als ihre Eltern. Was Ausgrenzung und Ablehnung betrifft, würde ich sehr vorsichtig sein, einen messbaren Fortschritt zu erblicken.

Was muss die Gesellschaft im Umgang mit jungen Muslimen noch dringend wissen?

Spenlen: Sie darf Grundrechte nicht teilen. Das Grundgesetz gilt für alle und damit auch für Muslime. Zum Zweiten: Bei vielem, was Menschen meinen, am Islam festzustellen, handelt es sich um einen Sachverhalt, der in Religionen allgemein zu Hause ist. Gewalt, Geschlechterfrage, Sexualität – das sind keine islamischen, sondern Religionsthemen. Aber da Muslime ihre Religion eher praktizieren als Nichtmuslime, werden diese Themen mit dem Islam identifiziert.

Und umgekehrt: Was müssen junge Muslime noch dringend im Umgang mit der Gesellschaft wissen, in der sie leben?

Spenlen: Vielleicht sich darüber klar werden, dass das Bestehen auf Rechtspositionen nicht immer zielführend ist. Ein Beispiel: Wenn ich mich mit Kopftuch um eine Stelle bewerbe, dann ist völlig klar, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz hin oder her, dass ich eher nicht genommen werde. Natürlich mit anderen Begründungen. Aber man muss nicht immer die Religion wie eine Monstranz vor sich her tragen.

Nordrhein-Westfalen hat einen neuen Anlauf genommen, auch den nicht organisierten Islam einzubinden, beispielsweise bei der Zusammensetzung der neuen Kommission für den islamischen Religionsunterricht. Ein guter Weg?

Spenlen: Ein sehr guter. Die Politik mit den Dachverbänden ist ins Leere gelaufen. Wer in Freitagspredigten den Einmarsch türkischer Truppen in Syrien rechtfertigt, mit dem kann man sich nicht an einen Tisch setzen und über Bildungsinhalte reden.

Sie waren zu Beginn Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Mittlerweile befindet sie sich in ihrer vierten Phase, aber man hört nicht viel. Wo steht sie im Augenblick?

Spenlen: Das Problem aller Islamkonferenzen war und ist, dass es sich um einen Expertenzirkel handelt, der von der Öffentlichkeit und auch von der Fachöffentlichkeit im Prinzip nicht wahrgenommen wird. Ein paar Dinge wie eben die Einrichtung des islamischen Religionsunterrichts sind weggeräumt worden, aber viel, was alle interessiert, gibt es da nicht zu berichten.