Konzert Alles bewegt sich: David Byrnes brillante Berlin-Show
Berlin (dpa) - Eigentlich geht ein Rockkonzert ja so: vorne der Sänger, knapp dahinter der Gitarrist, im Bühnenhintergrund neben dem Schlagzeuger der Bassist. Und vielleicht irgendwo an der Seite ein Keyboarder.
Bei David Byrne ist alles anders.
Und es ist fantastisch. Soviel gleich vorweg: Ein besseres Popkonzert dürfte es dieses Jahr wohl kaum geben.
Der einstige Frontmann der legendären US-Band Talking Heads hatte schon vor seiner „American Utopia“-Tournee angedeutet, dass es etwas ganz Besonderes zu sehen gebe. Auf die Magie, den Rausch, die enorme Ambition der aktuellen Byrne-Auftritte waren aber wohl die wenigsten der Zuschauer gefasst, die sich am Mittwochabend - manche zunächst sichtlich geknickt vom frühen WM-Aus der deutschen Fußballer - im Berliner Tempodrom einfanden.
Klar, bei David Byrne weiß man, dass er ein begnadeter Performer und ein visuell denkender Musiker ist. Man erinnert sich immer gern an „Stop Making Sense“ von 1984 - der Jonathan-Demme-Film von einem Konzert der Talking Heads gilt als eine der besten Musik-Dokumentationen aller Zeiten. Doch dass der Mann nun das klassische Band-Konzept eines Rockkonzerts so innovativ und schlüssig zertrümmern würde - das konnte man nicht ahnen.
Bevor es um kurz nach neun losgeht, machen sich einige dienstbare Geister an einem imposanten Bühnenvorhang aus zahllosen silbergrauen Schnüren zu schaffen. Durch diesen dichten Vorhang werden im Laufe der rund 100-minütigen Show - und ja, es ist mehr als nur ein Gig, es ist eine grandiose Show für Herz und Hirn - immer wieder Musiker auf die Bühne treten oder dahinter verschwinden.
Es ist ein stetes Kommen und Gehen. Die statische Beschränktheit normaler Konzerte wird abgelöst durch das Gewimmel eines Dutzends aufgedrehter Musiker und Tänzer - mit einem längst weißhaarigen, aber topfitten David Byrne mittendrin. Alles bewegt sich.
Ein Schlagzeug? Vergiss es. Stattdessen sorgen sechs höchst mobile Trommler und Percussionisten gleichzeitig für brodelnden Groove. Auch die Musiker an Bass, Gitarre und Umschnall-Keyboard sind ständig unterwegs, tauchen in die Rhythmusgruppe ein und treten dann wieder daraus hervor.
Alle Performer dieser atemlosen, atemberaubenden Inszenierung - Männer und Frauen, Weiße und Farbige - huschen oder marschieren barfuß und einheitlich grau gekleidet über die Bühne. Der Anzug von David Byrne wirkt etwas silbriger, ansonsten lässt sich der 1952 in Schottland geborene US-Amerikaner aber ohne jedes Star-Gehabe im großen Bühnengewusel mittreiben. Bisweilen sieht das wunderbar linkisch und nerdig aus. Byrne ist ja nun eigentlich auch schon ein älterer Herr - im Tempodrom merkt man davon nichts.
Einen Großteil der Konzert-Setlist bilden Songs des neuen Byrne-Soloalbums „American Utopia“ - eine hervorragende Basis, denn diese Platte ist nicht nur eine seiner stärksten überhaupt, sondern auch sehr nah dran am nervös wirbelnden Afro-Funk-Sound seiner früheren Band. Talking-Heads-Klassiker wie „Once In A Lifetime“, „Slippery People“ oder „Burning Down The House“ werden besonders gefeiert - hier mutieren Publikum und Bühnenpersonal gleichermaßen zu einer ekstatisch wogenden Masse. Doch auch Stücke aus Byrnes Solokarriere - darunter Kollaborationen mit Fatboy Slim und St. Vincent - kommen glänzend an.
Letzte Zugabe eines mitreißenden, schweißtreibenden Konzerts ist „Hell You Talmbout“, ein Protestsong der angesagten Sängerin Janelle Monáe gegen rassistische Gewalt. Dieses Lied sei leider gerade jetzt in den USA sehr „relevant“, man möge doch die darin auftauchenden Namen schwarzer Todesopfer bitte mal googeln, empfiehlt Byrne. Der Mann ist halt nicht nur ein toller Entertainer, sondern auch ein politischer Künstler, wie seine jüngste Denkanstoß-Kampagne „Reasons to be cheerful“ gerade erst wieder zeigte.
Am Ende der großen Berliner David-Byrne-Show sieht man überall glückliche Gesichter. Die WM-Pleite vom Nachmittag ist weit weg.