Anna Netrebko im Interview: "Klassik ist nicht alles im Leben"
Anna Netrebko und Erwin Schrott über Open-Air, Kritik und Lebensfreude.
Frau Netrebko, Sie werden in Münster vor 31 000 Leuten singen. Was ist der Unterschied zu anderen Konzerten?
Netrebko: Es ist schwieriger. Man braucht gute Nerven, viel mehr Energie und sehr gutes Wetter.
Im vorigen Jahr haben Sie schon einige Gala-Konzerte gegeben. Warum haben Sie die Liedauswahl geändert?
Netrebko: Viele Leute haben die TV-Aufzeichnung gesehen. Da wollten wir andere Arien bieten. Schrott: Aber wir singen lauter bekannte und beliebte Stücke. Das heißt nicht, dass wir den Leuten musikalischen Ketchup um den Mund schmieren. Wir liefern seriöse Arbeit ab. Weil das gemeinsame Repertoire für Sopran und Bassbariton so schmal ist, hat der schwedische Popkomponist Fredrik Kempe sogar einen Song für Anna und mich geschrieben.
Bisher haben Sie Crossover konsequent vermieden. Wollen Sie sich nun auf neuen Feldern tummeln?
Schrott: Ich weiß nicht, was dieses Gerede um Crossover soll. Ich glaube, das gibt es eigentlich gar nicht. Es gibt Oper, es gibt Pop, es gibt Rock — alles ist Musik, alles hat seine Würde. Neulich habe ich eine Tango-CD aufgenommen — ist das für Sie Crossover? Für mich nicht, für mich ist das Tango. Natürlich musste ich eine andere Technik anwenden, man kann nicht alles mit Opernstimme singen, wenn man sich nicht lächerlich machen will. Stellen Sie sich Musik einfach als Anzug für die Stimme vor — wenn der zu groß, zu kurz, zu eng ist, dann heißt das nur, dass dieser Anzug nicht zu dieser Stimme passt.
In Münster treten Sie beide mit dem Tenor Jonas Kaufmann auf. Wie ist die Zusammenarbeit?
Netrebko: Jonas ist ein wunderbarer Kollege, ein großer Sänger, er gehört sicher zu den zehn Besten der Welt. Aber wenn er dabei ist, muss man auch viel arbeiten, sonst sieht man nicht gut aus.
Frau Netrebko, auf Ihrer Internetseite gibt es die nette Rubrik „Ask Anna“, in der sie in Minifilmen Fragen von Fans beantworten — was Sie als Sängerin essen dürfen etc. War das Ihre Idee?
Netrebko: Ich beantworte diese Fragen gerne, und das macht zwischendurch auch nicht viel Mühe. Aber persönlich nutze ich keinen Computer.
Herr Schrott, Sie und Anna Netrebko gelten als Glamourpaar der Oper. Wie kommen Sie damit zurecht?
Schrott: Das ist bis zu einem gewissen Grad schmeichelhaft und herzerwärmend, wenn man merkt, dass einen so viele Leute mögen. Auf der anderen Seite ist es seltsam, weil wir unser Leben nicht als außergewöhnlich empfinden. Wir machen nur unsere Arbeit, gehen nach Hause, essen, lesen, spielen mit unserem Sohn. Wenn man stehenbleibt und darüber nachdenkt, was der Rest der Welt von einem denkt, lebt man irgendwann nicht mehr sein eigenes Leben — was ja sowieso schon kurz genug ist.
Gehen Sie besonders kritisch miteinander um, wenn Sie gemeinsam auf der Bühne stehen?
Netrebko, Schrott: nicken stumm.
Schrott: Wir sind sehr, sehr kritisch. Aber es geht nicht darum, den anderen zu verletzen, sondern ihn noch besser zu machen.
Netrebko: Wenn man eine Art Star ist, findet man sonst keinen, der ehrlich ist. Niemand kommt und sagt: „Das war nicht gut.“
Nehmen Sie diese Diskussionen mit nach Hause?
Netrebko: Niemals! Wenn die Arbeit vorbei ist, reden wir nicht mehr darüber. Wir sind nicht so verrückt, dass es außer Klassik nichts für uns gibt, im Gegenteil.
Schrott: Es gibt doch so schöne andere Dinge . . .
Netrebko: Kochen! Und wir arbeiten an einer gemeinnützigen Stiftung für Kinder. Das Leben darf nicht immer nur Arbeit sein. Es ist doch so schön! Es gibt Freunde, es gibt die Familie. Und wir haben uns!