Anna Vinnitskaya: Atmen, Essen, Klavierspielen

Anna Vinnitskaya ist 29 und die jüngste Klavierprofessorin in Deutschland — Musik gehört zu ihrer Familie und zu ihrem Leben.

Hamburg/Wuppertal. Mancher Mann braucht für die berühmten drei Aufgaben — Haus, Sohn, Baum — ein Leben lang. Anna Vinnitskaya (29) hat das Ganze binnen eines Jahres „absolviert“ und nebenher noch ihre Pflichten als Deutschlands jüngste Klavierprofessorin an der Hamburger Musikhochschule erledigt.

Seit die gebürtige Russin 2007 den „Concours Reine Elisabeth“ in Brüssel als erst zweite Frau in der Geschichte des renommierten Wettbewerbs gewann, verfolgt die Fachwelt voller Interesse die Karriere der zarten Musikerin.

Frau Vinnitskaya, in einer Kritik war nach einem Klavierabend von einem „Tastenvieh, das im Dunklen den Angriff vorbereitet“ zu lesen — erkennen Sie sich da wieder?

Anna Vinnitskaya (lacht): Über mein Erscheinungsbild habe ich mir nie Gedanken gemacht. Ich versuche mich völlig in die Musik zu vertiefen — und ob ich dabei wie ein Tier wirke, ist mir vollkommen egal.

Viele Kritiker loben Ihren „kraftvollen Anschlag“ und betonen das zupackende Moment — machen Sie ein spezielles Krafttraining?

Vinnitskaya: Ich esse ganz gut, das muss ich zugeben — doch ins Fitnessstudio gehe ich nicht, um meine Finger zu trainieren. Aber natürlich lege ich etwa bei einer Brahms-Sonate oder einem Prokofjew-Konzert viel physische Kraft in mein Spiel — bei Bach oder Beethoven hingegen mehr mentale Kraft.

Ihren ersten Klavierunterricht haben Sie als Sechsjährige bekommen — freiwillig?

Vinnitskaya: Ich habe mir nie die Frage gestellt, ob ich eine Pianistin werden möchte. Meine beiden Eltern sind Pianisten, mein Opa war Dirigent, mein Onkel ein erfolgreicher Geiger, Preisträger des renommierten Tschaikowsky-Wettbewerbs — Musik hat seit meiner Geburt einfach zu meinem Leben dazugehört. Vermutlich war es anfangs schon ein Wunsch meiner Eltern, doch nach fünf, sechs Jahren hat für mich das Klavier ebenso zum Leben gehört wie das Atmen oder das Essen.

War solch ein Pianisten-Elternhaus eher Ansporn oder Last?

Vinnitskaya: Es war schon eine Belastung, die aber nötig war in dieser Zeit — denn ohne diese Last hätte ich heute nicht diese pianistische Basis und solch ein breites Repertoire in meinen Händen und meinem Kopf. Dadurch musste ich mich als 18-Jährige kaum noch mit Technik am Klavier plagen, sondern konnte viel mehr in die geistige Arbeit an neuen Werken investieren.

Als 18-Jährige sind Sie ja dann nach Deutschland gegangen — damals für Sie ein völlig fremdes Land, dessen Sprache Sie nicht beherrschten . . .

Vinnitskaya : . . . kein Wort außer Ja und Nein und Danke.

Und dennoch hatten Sie keine Furcht vor diesem Schritt?

Vinnitskaya: Ich habe lange darüber nachgedacht. Meine Eltern wollten es, ich anfangs nicht, denn schließlich hatte ich ja nicht nur meine Eltern und Freunde in Russland: Nein, mein Vater fuhr mich auch zu den Konzerten und zum Unterricht, meine Mutter hat für mich gekocht, gewaschen und mir alles abgenommen — und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich das plötzlich alles allein schaffen sollte.

Aber irgendwie ist es Ihnen dann ja doch gelungen . . .

Vinnitskaya: . . . doch die ersten zwei Jahre in Deutschland waren die schwierigsten meines Lebens. Ganz allein in der Fremde, ohne die Sprache zu beherrschen, ohne Eltern, ohne kochen zu können — ich wusste noch nicht mal, was ich zum Frühstück einkaufen sollte, was ich da essen konnte. In all diesen logistischen Sachen war ich völlig hilflos und habe mich sehr einsam gefühlt — ja, ich hatte furchtbares Heimweh.

Gab es Momente, wo Sie am liebsten alles hingeschmissen hätten?

Vinnitskaya: Oh ja. Ich bin an der Hochschule ziemlich schnell vom zweiten ins achte Semester gesprungen und da habe ich gedacht: Jetzt mache ich meine Abschlussprüfung, und dann fahre ich nach Hause. Dann bin ich meinem Professor begegnet.

Was hat sich geändert?

Vinnitskaya: Ich habe bei Evgeny Koroliov gelernt, die Musik zu lieben und aus dem Bauch zu spielen. Jede Note nicht irgendwie und für sich zu spielen, sondern in jeder Note in jedem Moment dabei zu sein. Nicht nur ein Stück richtig zu spielen in puncto Technik und Dynamik, sondern sich selbst und dem Publikum damit etwas zu sagen.