Friedensbotschafter Barenboim begeistert New York mit Bruckner

New York/Berlin (dpa) - Nein, nicht nur Amerika müsse besser werden, die ganze Welt sollte wieder „great“ sein, ruft Daniel Barenboim den Zuhörern in der Carnegie Hall zu. Gerade hat die Staatskapelle Berlin die zweite Sinfonie von Anton Bruckner (1824-1896) beendet, einige Besucher wollen schon gehen.

Foto: dpa

Da ergreift der Dirigent das Wort. Genau vor 60 Jahren sei er hier zum ersten Mal aufgetreten, erzählt er über sein Debüt in der Carnegie Hall 1957 mit dem großen Dirigenten Leopold Stokowski (1882-1977). Und dann holt Barenboim zu einem Plädoyer für die Verteidigung der Kultur aus. Wer eine Politik ohne Werte betreibe, zerstöre das Gefüge der Gesellschaft.

Jeder im Saal versteht sofort, wer gemeint war. Kurz zuvor war Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gekürt worden. Die fast 2800 Zuhörer erheben sich zu einer Ovation, manche haben Tränen in den Augen.

Barenboim (74) und die Staatskapelle begeistern in diesen Tagen New Yorks Klassikliebhaber. Neun Bruckner-Sinfonien in einem Zeitraum von elf Tagen, dazu jeden Abend ein Klavierkonzert von Mozart, ebenfalls mit Barenboim in seiner Doppelrolle als Pianist und Dirigent. Mit ihrem Auftritt am „Big Apple“ schreiben der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper und sein Orchester Musikgeschichte in den USA. Der Zyklus aller Mahler-Sinfonien hatte vor ein paar Jahren schon für Furore gesorgt.

Doch jetzt betritt das Orchester Neuland. Noch nie sind in Amerika alle Sinfonien Bruckners als Gesamtzyklus aufgeführt worden. Zu schwer und wohl zu sperrig muten die Monumentalwerke des Österreichers an. Die auf Sponsoren, reiche Mäzene und den Ticketverkauf angewiesenen Veranstalter scheuten bisher das Risiko eines solchen Programms.

Barenboim und der künstlerische Direktor der Carnegie Hall, Clive Gillinson, gingen das Wagnis einer Komplettaufführung ein und werden nun dafür reichlich belohnt: Zur Halbzeit zeichnet sich ein Riesenerfolg ab. Stets ein fast vollbesetztes Haus, mehr als 200 verkaufte Karten für die gesamte Reihe, dazu 250 Tickets für mindestens fünf Abende. Und immer rauschender Beifall. Am Dienstagabend trat Barenboim sechs Mal zum Schlussapplaus vor das Publikum.

„Die Menschen sind hier äußerst neugierig auf den sehr deutschen Sound der Staatskapelle“, erklärt Gillinson den Erfolg der Berliner. Bereits zwei Mal hat die „New York Times“ über die Reihe berichtet — und die geht erst am kommenden Sonntag mit Bruckners Neunter zu Ende. „Wer Bruckners Sinfonien langatmig und eigenwillig findet“, schrieb „Times“-Kritiker Anthony Tommasini, erlebe „mit diesen großartigen Musikern“ eine Offenbarung.

Barenboim selber spricht von „archäologischer Arbeit“ bei der Aufführung dieses spätromantischen Werks. Man müsse Bruckners Musik auf den Grund gehen, sie wie einen antiken Fund ausgraben und die Klangschichten dann wie die Baumeister einer Kathedrale wieder Stück für Stück auftürmen. Das Ergebnis lässt das Publikum staunen: Hochkonzentriert verharrt es auf seinen Sitzen, wenn Barenboim die Streicher mit ihrem samtigen Klang führt, die Blechbläser den riesigen Raum füllen und sich Bruckners Motive mit ihren fast unendlichen Variationen zum fortissimo steigern.

Bis in die kleinsten Nuancen balanciert der argentinisch-israelische Dirigent das Orchester aus. Der Maestro wirkt dabei wie ein einfacher Mitspieler, reißt die Musiker in seiner Begeisterung mit.

„Sie in der Halle und wir auf der Bühne — wir bilden eine große Gemeinschaft“, spricht er dann zum Publikum. Wer klassische Musik als etwas Elitäres betrachte, gehe wohl nie ins Konzert und fühle auch nichts beim Klang der Musik. Riesenapplaus.

Und wie war das noch mit dem Debüt vor 60 Jahren? Barenboim gibt Auskunft. Stokowski habe ihn in Paris vorspielen lassen. Ob er, Barenboim, ein Konzert auch in der Carnegie Hall spielen wolle, habe er gefragt. Selbstverständlich. „Und was würdest Du gerne spielen?“ Beethovens Klavierkonzert Nummer drei, antwortete Barenboim, der das Werk gerade lernte.

„Toll, eine gute, sehr gute Idee“, habe Stokowski gesagt und ergänzt: „Du spielst Prokofievs Klavierkonzert Nummer 1!“, eines der wohl schwersten Konzerte, das der junge Daniel noch nie gespielt hatte. Es wurde ein großer Abend. Seitdem ist Barenboim mehr als 140 Mal in der Carnegie Hall aufgetreten - als Pianist und Dirigent.

„Ich hab es immer geliebt, vor Publikum zu spielen“, sagt er. Damals sei er von dem Applaus der New Yorker so berauscht gewesen, dass er ungefragt eine Zugabe gegeben habe - Bachs Choral „Jesu bleibet meine Freude“. Stokowski sei stocksauer gewesen. „In meinen Konzerten wird keine Zugabe gespielt“, herrschte er den damals 14-Jährigen an. Danach sprachen beide zwanzig Jahre nicht mehr miteinander.