Bieitos skandallose „Turandot“-Inszenierung
Nürnberg (dpa) - Keine einzige nackte Brust, nur wenig Blut und auch sonst nichts, was die Zuschauer so richtig hätte schockieren können. Auf einen echten Skandal hat bei der Neuproduktion von Giacomo Puccinis „Turandot“ durch den als Skandalregisseur geltenden Calixto Bieito so mancher vergeblich gewartet.
Und dennoch war das Publikum in Nürnberg bei der Premiere am Samstagabend zutiefst gespalten. Der spanische Regisseur und sein Team erhielten einerseits kräftigen und langanhaltenden Applaus. Die lauten Bravo- und Buh-Rufe hielten sich dennoch in etwa die Waage. Chor und Sänger dagegen wurden einmütig gefeiert.
Bieito erzählt die Geschichte der männermordenden chinesischen Prinzessin Turandot in kühlen, recht einfachen und schnörkellosen Bildern (Bühne: Rebecca Ringst). Vor einer Art chinesischer Mauer aus Pappkartons agiert der Chor in blauen Fabrikanzügen und mit Atemmasken - Assoziationen zum heutigen China sind sicher gewollt. Abgesehen von unzähligen roten Lampions in einer einzigen Szene verzichtet der Regisseur völlig auf Klischees.
So können sich die Zuschauer ganz auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren. In der Schreckensherrschaft der eiskalten Prinzessin, die ihre Verehrer reihenweise köpfen lässt, wenn sie ihre Rätsel nicht lösen können, herrschen rohe Gewalt und Willkür. Immer wieder reißt jemand einer Frau brutal die Kleider vom Leib und missbraucht sie. Peitschenhiebe und Schläge sind an der Tagesordnung - oft völlig ohne erkennbaren Grund.
Die psychischen Probleme der Figuren treten offen zutage - etwa wenn Turandot am Ende inmitten von Babypuppen sitzt und einer nach der anderen die Beine ausreißt. „Mich haben vor allem die Neurosen der Figuren interessiert“, schreibt Bieito denn auch im Programmheft des Staatstheaters.
Der Katalane bringt die Puccini-Oper zum ersten Mal auf die Bühne. Anschließend soll die Produktion in Toulouse und Belfast zu sehen sein. Der 50-Jährige verzichtet darin bewusst auf den Schluss, den der Komponist selbst nicht mehr schreiben konnte. Puccini starb 1924 an Kehlkopfkrebs, bevor sein Werk vollendet war.
Bieito mutmaßt, dass Puccini auch gar nicht wusste, wie er die Oper hätte beenden sollen. „Ein Liebesduett zwischen Calaf und Turandot war nach dem Selbstmord Liùs eigentlich nicht mehr realistisch“, sagte der Regisseur den „Nürnberger Nachrichten“. Ein plötzlicher Sinneswandel Turandots inklusive innigem Kuss mit dem Prinzen wäre wohl nicht nur unrealistisch, sondern auch extrem kitschig.
So endet Bieitos Fassung genauso wie die erste „Turandot“-Premiere im Jahr 1926 nach dem Tod der liebenden Sklavin. Er habe nicht den Sieg der Neurose erzählen wollen, sagt Bieito. „Ich habe das Gefühl, wenn wir mit Liùs Tod enden, hat nicht der Hass, die Staatsräson das letzte Wort, sondern wir enden mit Poesie.“ Und für alle, die das nicht verstanden haben, hängt sich Calaf ein Schild mit dem Wort „Poesie“ um den Hals.
Hauptdarsteller Vincent Wolfsteiner als Prinz Calaf kann überzeugen. Auch Hrachuhí Bassénz als Sklavin Liù bekommt viel Applaus. Rachael Tovey als Turandot stellt beide dennoch mit großer stimmlicher Wucht in den Schatten. Auch der Chor (Leitung: Tarmo Vaask) und das Orchester unter Peter Tilling ernten großen Beifall. Und Puccinis Komposition - allen voran die weltberühmte Arie „Nessun Dorma“ - erreicht ohnenhin wie meist ihr Publikum - mit oder ohne Skandal. Und so sagt auch eine Zuschauerin beim Hinausgehen: „Wenn du die Augen zumachst und dich nur auf die Musik konzentrierst, ist es sehr schön.“