Geheimtipp mit Grammys: Der große Song-Poet Joe Henry

Berlin (dpa) - Als Musikproduzent ist Joe Henry dick im Geschäft und Grammy-dekoriert. Als Singer/Songwriter hingegen blieb der 53-Jährige bisher ein ungekrönter Champion. Ob sich das mit seinem 13. Album ändert?

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Die Klasse dafür hat „Invisible Hour“ allemal. Wieder mal.

Seit Jahren verknüpft Henry poetische, von tiefer Menschlichkeit und Weltklugheit geprägte Texte mit meisterhaften Folk-, Blues- und Jazz-Melodien. Auch auf „Invisible Hour“ (earMUSIC/Edel) hat er wieder elf Wunderwerke der Erzähl- und Kompositionskunst versammelt. Man sieht die Landschaften der US-Südstaaten vor sich, vielleicht auch Szenen aus den Büchern Colum McCanns (dazu später mehr), wenn man die edlen, beruhigenden Songs des aus North Carolina stammenden Mannes mit dem Allerweltsnamen hört.

Für seine neuen Lieder genügen dem Wahl-Kalifornier akustische Gitarren und Mandolinen, ein behaglich knarrender (Kontra-)Bass, raschelndes Schlagzeug und einige vom hochtalentierten Sohn Levon Henry beatmete Blasinstrumente: Heraus kam in einer nur wenige Tage dauernden Session dieser typisch erdige, warme Sound, der bei vielen renommierten Kollegen so begehrt ist und die Kasse des Produzenten Henry klingeln lässt. Was wiederum ihm selbst alle Freiheiten schenkt, als Singer/Songwriter in der Traditionslinie Bob Dylan/Tom Waits/Van Morrison/Randy Newman unbeirrbar weiterzumachen.

Joe Henry sieht die Tatsache, ein ewiger Geheimtipp zu sein, durchaus zwiespältig: „Ach, ich wäre unehrlich, wenn ich so täte, als ob mich das gar nicht stört. Aber immerhin darf ich das machen, was ich will, und zwar mit vollem Herzen, ohne Kompromisse“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur in einem seiner seltenen Interviews. „Also: Dauernd über den Erfolg nachzudenken, das täte der Seele -nicht gut, und es wäre auch nicht gut für meine Arbeit.“

Dass konzentriertes Songwriting ohne finanziellen Druck Henry tatsächlich gut tut, dafür steht das neue Album wie kaum ein anderes seit dem Debüt von 1986. Es hat die Qualität seiner Meisterwerke „Scar“ (2001) oder „Civilians“ (2007), ohne diesen ähnlich zu sein. Wieder einmal kriegt Henry eine spannende Variation seines Sounds hin. „Ich will gar nicht um jeden Preis etwas ganz Anderes machen“, stellt er im dpa-Gespräch klar. „Es geht mir immer um das Bündel neuer -Songs, das ich habe, und die Frage: Was unterscheidet diese Lieder von vorherigen, und wie trage ich dem am -besten Rechnung.“

Diesmal habe er vorher viel ältere Folkmusik gehört, etwa Simon & Garfunkel oder -Nick Drake. Dabei kam ihm die Idee, die Platte reduzierter anzulegen als den Vorgänger „Reverie“ (2011). Deshalb verzichtete er erstmals auf das sonst so präsente Piano. „Das war eine -schwere Entscheidung, weil ich Klavier ja liebe und meinen alten Keyboard-Mitstreiter Patrick Warren -diesmal draußen lassen musste“, sagt Henry. „Es sollte viel Luft im Klangbild bleiben.“

Das Experiment darf als grandios gelungen bezeichnet werden. Der langsam heranschleichende Opener „Sparrow“, das sich über neun Minuten dehnende Folk-Monument „Sign“, der zarte Swing von „Lead Me On“, das abschließende „Slide“ mit seinen schwerelosen Gitarren - allesamt Lieder für den Olymp. Den Sänger Joe Henry, seine eigentümlich nasale, markante Stimme kann man ebenfalls kaum genug loben. Übrigens auch für seine starke Live-Präsenz, wie ein 90-minütiges Vater-Sohn-Konzert mit Levon, einer Gitarre und etwas Klavier im Berliner Jazzclub Quasimodo gerade erst bewies.

Kulturell breit aufgestellt ist er obendrein. So widmete Henry der Literatur-Nobelpreisträgerin Alice Munro ein neues Stück. Und den Titelsong schrieb er zusammen mit dem bekannten Schriftsteller Colum McCann, auf dessen Initiative auch „Sign“ zurückgeht. Diese Künstlerfreundschaft begann vor einigen Jahren, erzählt Henry: „-In seinem Roman „Der Tänzer“ las ich einen schockierend schönen Satz, und am nächsten Morgen -schrieb ich ihm eine Mail: Da ist ein Satz in Ihrem Buch, der schreit danach, von mir geklaut zu werden, ich möchte einen Song drumherum schreiben. Und er antwortete: Gern, machen Sie nur. So wurden wir Freunde.“

Thematischer Schwerpunkt des Albums ist die dauerhafte Partnerschaft, die Ehe - es gehe um „die erlösende Kraft der Liebe im Angesicht der Furcht“, so der seit 27 Jahren mit einer Schwester von US-Superstar Madonna verheiratete Henry. Was das bedeutet? „Wir müssen alle sterben - und wir Menschen wissen das. Dennoch müssen wir das Leben -meistern - im Angesicht eines sicheren Todes. Wie kann man trotzdem in die Zukunft blicken, -obwohl man weiß, dass alles so begrenzt ist? Nur dadurch, dass wir unser Leben mit dem eines -anderen Menschen verbinden, jenseits der eigenen, flüchtigen Existenz.“

Solch tiefe Gedanken, aber auch die komplexen Arrangements von „Invisible Hour“ könnten wieder zu ambitioniert für ein breites Publikum sein, so dass Joe Henry wohl ein Singer/Songwriter für Eingeweihte bleiben wird. Als Produzent jedoch ist er eine ganz große Nummer. Nach zahllosen Veredler-Jobs - etwa für Hugh „Doctor House“ Laurie, Billy Bragg, Bonnie Raitt, Aaron Neville, Elvis Costello oder Aimee Mann - und drei Grammys steht die Kundschaft Schlange. Derzeit betreut er unter anderem neue Alben von Emmylou Harris sowie den Soul-Veteranen Allen Toussaint und Bettye -LaVette.

Und sogar als Schriftsteller ist Henry aktiv: Sein Buch „Furious Cool“ über -den 2005 gestorbenen farbigen Schauspieler und Freigeist Richard Pryor wurde voriges Jahr ein Überraschungserfolg. Er verfasste es zusammen mit seinem Bruder David - und es soll keine Eintagsfliege bleiben: „Wir werden ein weiteres Buch schreiben. Ich weiß zwar noch -nicht, worüber - aber durch diese offene Tür müssen wir natürlich gehen.“ So ist er, dieser unerschrockene Joe Henry.