Karajans digitales Universum
Anlässlich des 100. Geburtstags des österreichischen Maestros überschlagen sich die Plattenfirmen mit Sonder-Boxen. Doch nicht alle Sammlungen sind zu empfehlen.
Düsseldorf. Beim Abhören so mancher Karajan-Aufnahme anlässlich des 100. Geburtstages kommen starke Zweifel an den Klischees auf, die über den gebürtigen Salzburger existieren. Zum Beispiel löst sich jenes hartnäckige Urteil in Wohlgefallen auf, Karajan habe zugunsten der Klangschönheit die wichtigen Ecken und Kanten geglättet.
Gewiss klingt bei Karajan alles etwas ebenmäßiger, doch keineswegs zu Lasten des musikalischen Ausdrucks. Es ist das Phänomen Karajan, dass er technische Perfektion, gestochen scharfe Klangbilder und eine seidige Oberfläche mit dramatischen Wirkungen und emotionalen Gehalten in Einklang bringen konnte.
Das macht ihn weniger zum Gegenteil eines Wilhelm Furtwängler, der den Ausdruck über Präzision setzte, als vielmehr eines Nikolaus Harnoncourt. Nun hat die Schallplattenindustrie ihre gewaltigen Karajan-Archive aufgemischt und Wiederveröffentlichungen von Aufnahmen aus einem halben Jahrhundert auf den Markt der Klassik-CDs geworfen.
Darf’s ein bisschen mehr sein? Dann hat die Firma EMI Classics genau das Richtige zu bieten, nämlich zwei schwere Boxen mit allen Aufnahmen, die Herbert von Karajan mit dem Londoner Label produzierte. Der längliche Kasten mit allen Opern- und Chorwerk-Aufnahmen enthält 71 CDs, im noch etwas größeren Karton mit sämtlichen Orchester-Einspielungen stecken sagenhafte 88 Silberlinge.
Die Deutsche Grammophon bescheidet sich zunächst mit einer zehnteiligen "Master-Box", und die Londoner Decca sammelt alle ihre mit den Wiener Philharmonikern produzierten Karajan-Aufnahmen in einem kleinen Karton mit neun CDs. Letztere beinhaltet unter anderem eine mitreißende und gefühlsintensive Einspielung von Tschaikowskys Fantasie-Ouvertüre "Romeo und Julia" sowie fulminante Interpretationen einiger Strauss-Tondichtungen.
Hinter luxuriös aufgemachten Editionen mit Titeln wie "Karajan Gold" verbergen sich meist große Enttäuschungen. Zu hören sind oft nur einzelne Sätze, selten komplette Werke. Und einige Plattenfirmen, etwa die Deutsche Grammophon, haben Aufnahmen so willkürlich zusammengeschüttet, als hätten die Verantwortlichen gewürfelt.
Gleichwohl befinden sich im 30-seitigen Karajan-Katalog der DG große Schätze aus der langen Ära mit den Berliner Philharmonikern. Von Mahler-Aufnahmen sollte man dabei aber lieber die Finger lassen, dafür bei Bartók und Strawinsky zugreifen. Unübertroffen in ihrer Virtuositäten und luziden Klangentfaltung ist auch die frühe Strauss-Platte mit dem "Heldenleben" und "Till Eulenspiegel". Zum Glück sind alle CDs auch einzeln erhältlich.
Bei Karajan kann man eine grobe Faustregel anwenden: Je früher die Aufnahme, desto spannungsvoller die Darbietung. Das trifft zwar nicht immer zu, doch hat eine hohe Trefferquote. In den frühen 50er Jahren befand er sich auf dem Höhepunkt seines Könnens. Eine Kostprobe liefert sein 1952 in Bayreuth mitgeschnittener "Tristan" mit Ramon Vinay und Martha Mödl, erschienen bei Orfeo d’Or.
Unter den Videos und DVDs sollte man die Finger von den glatten Werken der 80er Jahre lassen. Zu den Highlights gehört das Verdi-Requiem (1967). Diese Aufführungsleistung ist ein Beweis für die Kompatibilität von reinster Klangschönheit und hoher Ausdruckskraft (mit Leontyne Price, Fiorenza Cossotto, Luciano Pavarotti und Nikolai Chiaurov). Ein Star-Sängeraufgebot ist auch in Wagners "Rheingold" (1978) zu erleben mit Thomas Stewart, Brigitte Fassbaender und Peter Schreier.