Knalliger Pop gegen Panikattacken

Auf ihr ruhen die Hoffnungen der europäischen Musikindustrie: Jessie J macht mit rabiaten Ohrwürmern Lady Gaga den Thron streitig.

Man musste kein Wahrsager sein, um vorhersehen zu können, dass Jessica Ellen Cornish 2011 ihren großen Durchbruch feiern würde. Ein Blick in die „Sound of …“-Liste der britischen BBC genügte. Seit 2003 stimmen Musikkritiker und Branchenangehörige immer im Dezember über die vielversprechendsten Künstler des bevorstehenden Jahres ab. Keane, 50 Cent oder Mika wurden so schon vor Karrierebeginn als Hoffnung für die Musikindustrie identifiziert und enttäuschten die in sie gesetzten Erwartungen nicht.

2011 fällt diese gewichtige Rolle Cornish zu, die sich auf der Bühne Jessie J nennt. Die Karriere als Popstar schien der heute 23-Jährigen in die Wiege gelegt. Mit neun wurde sie für die Westend-Produktion des Lloyd-Webber-Musicals „Whistle Down The Wind“ gecastet. Songs schreibt Cornish seit ihrem 13. Lebensjahr, mit 16 kam sie zur renommierten Londoner BRIT-School for Performing Arts and Technology und drückte dort unter anderen mit Adele die Schulbank.

Dass die ehemaligen Klassenkameradinnen, die heute noch eine innige Freundschaft verbindet, ausgerechnet im gleichen Jahr die Charts bestimmen, ist mehr als Zufall: Beide schreiben ihre Songs selbst, beide sind extrem begabt, und beide füllen große Bühnen mit ihrer Präsenz. Eine Konkurrenzsituation entsteht dadurch nicht. Sowohl was ihren Typus als auch was den Musikstil angeht, sind beide grundverschieden: Adele gibt die eher zurückhaltende Neo-Soul-Diva, während Jessie J mit schrillen Outfits und knalligem Pop Lady Gaga an den Kragen will.

200 Songs sollen es sein, die Cornish schon geschrieben hat. Die hohe Schlagzahl und das unbestreitbare Gespür für eingängige Melodien ließen sie zunächst zur gefragten Songschreiberin werden: Chris Brown, Miley Cyrus oder Alicia Keys sangen bereits ihre Kompositionen. Als sie schließlich selbst als Künstlerin in Erscheinung trat, erhielt sie prompt höchste Weihen: Justin Timberlake bezeichnete sie als „beste Sängerin weltweit“.

Die Briten sehen das mittlerweile ähnlich. Mit ihrer ersten Single, dem aggressiven Disco-Stampfer „Do It Like A Dude“, landete die gebürtige Londonerin auf Platz zwei der Charts, das spaßig-leichte „Price Tag“ brachte ihr gar einen Nummer-eins-Hit ein und schickt sich an, europaweit einer der Sommerhits des Jahres zu werden.

Diese bemerkenswerte Phalanx an Erfolgen scheint Jessie J allerdings kalt zu lassen. Im Gegensatz zu ihren extravaganten Video- und Bühnen-Outfits gibt sie sich in Interviews betont geerdet, redet bereitwillig über sich und ihre Vergangenheit, beispielsweise darüber, dass sie in der Schule unter dem Image ihrer wohlerzogenen und ehrgeizigen Schwestern zu leiden hatte, deren akademische Brillanz zuerst auch immer auf sie projiziert wurde.

Klar kokettiert Jessie J, wenn sie in diesem Zusammenhang von sich sagt, sie sei eigentlich nie in irgendetwas wirklich gut gewesen. Andererseits gehören solche schwer nachvollziehbaren Selbstzweifel zu begabten Menschen einfach dazu.

Vielleicht ist die reflektierte und grüblerische Seite von Cornish aber auch schlicht die Folge der gesundheitlichen Rückschläge, die sie bereits seit früher Jugend heimsuchen. Mit elf wurden Herzrhythmusstörungen festgestellt, mit 18 erlitt sie einen Schlaganfall, der glücklicherweise keine Spuren hinterließ. „Nicht vollkommen gesund zu sein, hat mir vor Augen geführt, dass ich nichts als selbstverständlich nehmen kann“, sagte sie in einem Interview. Zigaretten und Alkohol rührt sie infolgedessen nicht an, Kontrollverlust bereitet ihr Angst. Erst jüngst geriet sie in Panik, als sie bei einem Auftritt in völliger Dunkelheit singen sollte.

Ihre Musik und ihre Bühnenshow stehen zu dieser zaghaften Seite in völligem Widerspruch. Jeder Song, der auf ihrem Debütalbum „Who You Are“ zu finden ist, spiegelt unbändige Lebenslust wider. Es ist ein bisschen so, als würde Cornish die Kunstfigur Jessie J dazu benutzen, das ausleben zu können, was sie sich unter normalen Umständen nicht so recht traut. Das Dasein als Popstar als Therapie.