Mozart und Händel im Slum in Nairobi
Nairobi (dpa) - Die kenianische Nationalhymne hallt von den Wänden der Gemeindehalle in der St.-John-Kirche. Die jugendlichen Orchestermusiker tragen ausgeblichene Hemden. Roter Staub bedeckt eingerissene Hosen, manche Gummisandale hat kein passendes Gegenstück gefunden.
Die Bläser setzen zu spät ein. Hier und da liegt ein Ton daneben. Das Stück schleppt sich, doch die bunte Kapelle hält durch bis zur letzten Note. Dirigent Michael, kaum älter als seine Schützlinge, ist nicht zufrieden: „Das ist die Nationalhymne. Spielt das nicht so laut wie den anderen Krach, den ihr macht.“
An Sonntagnachmittagen beugt sich eine Gruppe 13- bis 17-Jähriger im Korogocho-Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi über Noten und büffelt Musiktheorie. Etwa 40 Jugendliche sind es zur Zeit, die jeden Sonntag für zwei Stunden neben der Theorie ein klassisches Instrument lernen und gemeinsam musizieren.
Die Straße vor der Gemeindehalle ist staubig, der Müll türmt sich an den Straßenrändern. In kleinen Holzverschlägen verkaufen Frauen Gemüse und das Notwendigste. Lärmend vorbeifahrende Mopeds wirbeln den Staub der Straße auf. In Korogocho leben dicht gedrängt mindestens 150 000 Menschen. Die Musikliebhaber des Slums haben ihrem Projekt daher mit einer Prise Ironie den schönen Namen „Ghetto Classics“ gegeben. Klassische Musik wird in Kenia nur selten an öffentlichen Schulen unterrichtet. Sie in einem Armenviertel zu hören, ist noch ungewöhnlicher.
„Ursprünglich war es als soziales Projekt gedacht“, sagt die Sopranistin Elizabeth Njoroge, die „Ghetto Classics“ vor vier Jahren gegründet hat. „Wir wollten den Kindern im Slum eine positive Umgebung bieten, sie aus Schwierigkeiten heraushalten, ihnen Disziplin und Fokus vermitteln“, sagt sie. „Als Musikerin war es für mich naheliegend, dass diese Idee etwas mit Musik zu tun hat.“ Aus Mangel an Instrumenten begann „Ghetto Classics“ als Chor mit ein wenig Musiktheorie. Dann hörte die deutsche Botschaft Ende 2011 von der Idee und spendete einen Großteil der hochwertigen Instrumente wie Geigen, Trompeten oder Klarinetten.
Inzwischen steht für jeden Musikschüler ein Instrument zur Verfügung — wenn auch nicht unbedingt das, was er möchte. „Am beliebtesten sind Saxophone. Schlagzeug dagegen will kaum einer spielen“, sagt Tiermedizin-Student Benjamin Wamocho, der seit Anfang an als unbezahlter Lehrer dabei ist. Am Gymnasium hat er Flöte spielen gelernt. „Anderen zu helfen, ist Teil der menschlichen Natur“, erklärt der 25-Jährige sein Engagement. „Auch ich habe es nur durch die Hilfe anderer dahin geschafft, wo ich heute bin.“
„Ghetto Classics“ erinnert an das Konzept El Sistema des Venezolaners José Antonio Abreu, der unterprivilegierten Kindern mit Hilfe von Musik Selbstvertrauen, Gemeinschaftssinn und Disziplin nahebringen wollte. Der berühmte Dirigent Gustavo Dudamel begann dort zum Beispiel seine Karrriere. Ghetto Classics wirkt in einem bescheideneren Rahmen, aber auch hier gibt es spannende Erfolge.
Einer der Lehrer des Projektes malt gerade mit dem Finger Noten an die Tafel; Kreide gibt es nicht. Seine Klasse von etwa 20 Schülern lenkt er mit der Autorität und dem Verständnis derer, die sich etwas erarbeitet, aber ihre Wurzeln nicht vergessen haben. Brian Kepher, 20, ist die Erfolgsgeschichte von „Ghetto Classics“. Bis vor vier Jahren interessierte er sich überhaupt nicht für Musik. Er war in Korogocho mit neun Geschwistern aufgewachsen, einem arbeitslosen Vater und einer Mutter, die zum Überleben Gemüse verkaufte. Weil das Geld knapp war, ging er nur unregelmäßig zur Schule. Er war Pfadfinder und wollte zur Armee.
Dann hörte er zum ersten Mal ein Orchester live die Nationalhymne spielen. „Es war eine so wunderbare Harmonie!“ Brian Kepher hatte eine neue Welt entdeckt. Diese Welt, die Welt Händels, Mozarts und Dvoraks, aber auch die christlicher und afrikanischer Musik, wurde seine Leidenschaft. Bei Ghetto Classics lernte er Pauke spielen. In Internetcafés schaute er sich Videos der besten Orchester der Welt an. Er träumte und übte.
Nach einem Jahr wurde er ins nationale Jugendorchester eingeladen, heute spielt er im renommierten Nationalorchester Kenias. Außerdem studiert er Musik und Philosophie. „Ich sehe meine Zukunft in der Musik“, sagt er. Brian lebt auch weiter im Slum Korogocho. Seinen Nachbarn erzählt er aber lieber nicht, dass er studiert und Erfolg hat. Er hat Angst, Neider könnten ihm einen Strich durch die Rechnung machen.
Außer für Brian war „Ghetto Classics“ auch für einige andere Jugendliche des Slums der Beginn einer Musikerkarriere: Sie treten als Band auf und verdienen sich etwas dazu. Gründerin Elizabeth Njoroge ist stolz auf ihr Projekt. „Die Kinder sind selbstbewusster, fokussierter, verantwortungsbewusster geworden“, sagt Njoroge. „Sie gehen regelmäßiger in die Schule. Sie sehen sich als Team. Und die ganze Nachbarschaft ist stolz auf sie, wenn sie auftreten.“