Party statt Pathos: Arcade Fire bitten zum Tanz
Berlin (dpa) - Kein Zweifel: Die Kanadier Arcade Fire sind die Band der Stunde, ihr neues Album „Reflektor“ ist eine der Platten des Jahres.
Wenn die Truppe aus Montreal unter dem Pseudonym The Reflektors ihre Fans in Berlin „verkleidet oder im eleganten Abendoutfit“ zum geheimen Clubkonzert bittet, wird daraus ein Ereignis.
Beim Auftritt am Dienstagabend im proppevollen, festlich geschmückten Astra Kulturhaus war eine Mega-Band im Guckkastenformat zu besichtigen. Soviel dürfte klar sein: In so intimer Atmosphäre wird man Arcade Fire so bald nicht mehr erleben - ihr neues Spielfeld sind riesige Hallen, Stadien und Festivals.
Dass The Reflektors - ein auf recht schäbigen Plakaten beworbenes Sextett unklarer Herkunft - in Wirklichkeit Arcade Fire sind, hatte sich in Berlin natürlich schnell herumgesprochen. Entsprechend groß war der Run auf das begrenzte Kartenkontingent fürs bestenfalls mittelgroße Astra. Entsprechend lang die Schlange aufgeregter Fans vor dem Club - viele ohne Ticket, aber mit der Hoffnung, dass ihnen ihre fantasievolle Kostümierung irgendwie Einlass bescheren möge.
Die gut 1200 Glücklichen im Club-Inneren beeindruckten mit ihren Outfits dann auch den Hauptdarsteller des Abends: "Es macht Spaß, so viele schöne, gut gekleidete Menschen zu sehen", sagte Win Butler, der zunächst noch in der Rolle des Sängers von The Reflektors blieb. Mit offiziell 40 Euro hatten die Besucher einen happigen Obolus für eine völlig unbekannte Band entrichtet - jedoch einen bescheidenen für die Grammy-dekorierte Nummer-Eins-Formation Arcade Fire (im Internet sollen bis zu 400 Euro pro Karte gezahlt worden sein).
Schon mit dem treibenden, basslastigen Groove des ersten Songs „Reflektor“ stand das Thema des Abends fest: Keine verschütteten Proberaum-Songs, keine obskuren Coverversionen, erst recht keine schräge Punk-Metamorphose einer Band für die Massen. Ganz klar, hier sollte das jüngste, den Superstar-Status untermauernde Doppelalbum noch einmal im kleinen Rahmen aufgeführt werden, ehe der Weg in den Indierock-Mainstream fortgesetzt wird.
Aber was für ein Album ist das! Mit „Reflektor“, der Ende Oktober erschienenen vierten Platte, haben Arcade Fire bewiesen, dass weltweiter Erfolg nicht mit glattgeschliffenen Songs erkauft werden muss. Mit rund 80 Minuten Spieldauer auf 2 CDs zwar überlang (eine Viertelstunde weniger hätte nicht geschadet), aber voller Energie und mit dem spürbaren Willen, sich noch einmal neu zu erfinden.
Der grandiose Titelsong enthält gar einen der raren Gastauftritte von David Bowie, einem Arcade-Fire-Fan der ersten Stunde. Produziert hat James Murphy (LCD Soundsystem), der dieser grüblerisch veranlagten Band den überwältigenden, pathetischen Folkrock früherer Platten austrieb - zugunsten einer tanzbaren Mixtur aus elektronisch aufgeladenem Funk, weißem Soul und sogar Dub-Reggae, am ehesten vergleichbar mit den Talking Heads in ihrer besten Phase.
Ein Stilwechsel nicht ohne Risiko, selbst für eine kultisch verehrte Band. Dennoch erreichte „Reflektor“ in Großbritannien und in den USA sofort die Spitze der Charts (in Deutschland Platz 6).
Im Clubkonzert wurden die nach wie vor vorhandenen Ecken und Kanten noch deutlicher. Ein euphorisierter Win Butler kippte sich auf der heißen, engen Glitzerbühne mehrere Gläser Bier über den Kopf, seine Ehefrau und Co-Sängerin Régine Chassagne tanzte ausgelassen im Paillettenkleid, die insgesamt neunköpfige Truppe ließ es zugehen wie im haitianischen Karneval, der einige der neuen Songs inspiriert hatte.
„We Exist“ (mit tollem „Billy Jean“-Basslauf), „You Already Know“, „Normal Person“, zum Abschluss „Here Comes The Night Time“ - auch dieses neue Album enthält jede Menge Hits. Der gut 90-minütige Berliner Auftritt beschränkte sich fast komplett auf die Gegenwart der Band, ältere Fan-Favoriten wurden nicht serviert. Das Kalkül ging dennoch auf: Bis auf wenige Besucher in den hinteren Reihen, die sich mehr für ihre schrille Verkleidung interessierten als für die Musik, zeigte das Publikum die erhoffte Reaktion - es tanzte und feierte The Reflektors. Oder besser: die neuen Arcade Fire.