Summerjam: Der Reggae erfindet sich neu

Das Festival kehrte am Wochenende zurück zu den Wurzeln der Musik und ist dennoch so aktuell wie selten zuvor.

Köln. Das Credo der Organisatoren, aktuelle Topstars an den Fühlinger See zu holen, wurde wohl selten so stark umgesetzt wie beim 28. Summerjam. Am Wochenende sorgte nicht nur die Besten des gefeierten Reggae-Revival für Furore, sondern vor allem zwei in der Szene teils kontrovers diskutierte Acts: Die Dancehall-Erneuerer von Major Lazer und der zum Reggae konvertierte Snoop Lion, vormals als Rapper Snoop Dogg unterwegs.

Wieder hatten sich laut Veranstalter mehr als 30 000 Fans zur Pilgerfahrt an den Fühlinger See aufgemacht. Wer beobachtet, was sich rund um das Festivalgelände an diesen drei Tagen tut, wer die Bollerwagen sieht, die kilometerweit vom Park- zum Zeltplatz gezogen werden, dem wird es nicht schwerfallen, den Stellenwert der Musik für viele Fans zu erkennen.

Nach einer Zeit des von vielen kritisierten Stillstands ist die Szene auf dem Weg der Selbsterneuerung. Einen großen Anteil daran haben die Sänger, denen auf Jamaika das Reggae-Revival zugeschrieben wird. Und einen wesentlichen Teil dieser Sänger gab es auf dem Summerjam zu sehen.

Während Snoop Lion am ersten Abend auf der roten Bühne auch mit vielen seiner HipHop-Klassikern die Masse anzog, sammelten sich die Roots-Reggae-Fans an der Green Stage. Sie erwarteten Tarrus Riley mit der Blak Soil Band. Es dürfte schwierig werden, eine musikalisch bessere Formation in der Szene zu finden — und das weltweit.

Der charismatische und gewitzte Riley hatte die Menge im Griff, ohne dabei auf große Posen und martialische Texte zu setzen. Fantastische Ergänzung ist eine lebende Legende: Saxofonist Dean Fraser (55) spielte bereits mit Größen von Marley bis Gentleman.

Fraser bedient sein Instrument nicht einfach, er lebt und liebt es. Das Publikum war sofort da, als sich Riley und Fraser ein Duell der besonderen Art lieferten und sich Gesang und Saxofontöne wie beim Pingpong hin- und herwarfen.

Ehrlichkeit und Authentizität werden wohl selten woanders so anerkannt wie auf Reggaefestivals. Davon profitieren Künstler wie Chronixx, Protoje oder Romain Virgo, die ebenfalls für einen Richtungswechsel zurück zu den Wurzeln des Reggae stehen.

Rebellisch und stets mit dem Ziel einer besseren Gesellschaft vor Augen, zeigte sich Chronixx auf der Bühne. Er entpuppte sich vom Start weg als Kämpfer und Energiebündel. Der Zusammenhalt zwischen den Künstlern des Reggae-Revival wird immer wieder deutlich, wenn sie sich auf der Bühne gegenseitig Respekt aussprechen und sogar die Songs der anderen singen.

Den vermutlich größten Wurf des Summerjam lieferte die amerikanisch-jamaikanische Truppe um Produzentengenie Diplo ab. Das war nicht mehr Musik von 2013 — das war 2030. Während auf der Hauptbühne Lokalmatador Gentleman sein 20. Bühnenjubiläum mit einem kraftvollen Auftritt beging, waberten am zweiten Spielort die Beats im Stakkato über das Gelände. Es gab kaum einen Übergang zwischen den Songs, der nicht überraschte oder zumindest frenetisch gefeiert wurde.

Die meisten Zuschauer verbrachten einen Großteil der Zeit in der Luft, immer wieder aufgefordert, im Takt zu springen. Major Lazer bewegen sich musikalisch zwischen den Welten, nehmen Altes und trimmen es auf neu oder hauchen Neuem eine alte Seele ein. Auch die Bühnenshow sucht ihresgleichen — zum Beispiel, als Diplo und sein MC Walshy Fire in aufgeblasene Laufbälle steigen und damit Stagediving einmal anders betreiben.

Für einen Hingucker der anderen Art hatte am Vortag bereits der amerikanische Sänger Matisyahu gesorgt. Es war vermutlich ein Novum, als er die Nähe zu den Fans wörtlich nahm und sie zum Ende des Konzerts einlud, mit ihm auf der Bühne zu feiern. Das ließen sich die Anhänger aus der ersten Reihe nicht zweimal sagen und stürmten die quasi „von ganz oben“ freigegebene Bühne.

Was in diesem Moment in den Köpfen der wenigen Sicherheitsleute im Bühnengraben vorging, ist nicht überliefert. Aber wie es sich für ein Reggaefestival gehört, ging auch der Bühnensturm mit anschließendem Abstieg friedlich und unfallfrei vonstatten.