Nagano sorgt sich um Klassik

Der Dirigent füllt die Konzertsäle und fürchtet dennoch, dass Mozart & Co. an Bedeutung verlieren.

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Kent Nagano gehört zu den profiliertesten Dirigenten der Welt. Überall füllt er die Konzertsäle — dennoch sieht er das Interesse an klassischer Musik schwinden. In einem neuen Buch beschreibt der Amerikaner das Problem, im Interview erklärt er, wer schuld sei.

Herr Nagano, Sie schreiben, dass klassische Musik an Bedeutung verliert. Was macht Sie so pessimistisch?

Kent Nagano: Pessimistisch ist nicht ganz das richtige Wort. Vielmehr bin ich tief besorgt. Im Alltag und vor allem bei jungen Menschen hat die klassische Musik kaum noch Bedeutung. Die Selbstverständlichkeit ihrer Präsenz ist verloren gegangen. Diese großartige Kunst droht zu einer Liebhaberei einiger Schichten zu werden. Aber dafür ist sie nicht gedacht. Sie ist für jeden komponiert. Hausmusik — wo findet die noch statt?

Aber es finden doch jeden Tag in jeder größeren Stadt klassische Konzerte statt.

Nagano: Der Anteil der Bevölkerung, der mehr als einmal im Jahr ein Konzert besucht, ist verschwindend. Das Publikum altert. In Amerika finden Konferenzen dazu statt, wie dem Phänomen begegnet werden kann. Orchester werden geschlossen oder fusioniert — im Musikwunderland Deutschland mit seiner (noch) großartigen Orchesterlandschaft findet das schleichend statt, in den USA geräuschvoller. Die Übertragung klassischer Musik in Funk und Fernsehen ist eine Seltenheit geworden. Klassiksender verschwinden oder werden ins Digitale verschoben.

Wenn die Jugend Beethoven nicht mehr hören will, ist das nicht einfach der Lauf der Dinge?

Nagano: Kulturelle Gewohnheiten und Vorlieben verändern sich. Natürlich. Doch die Bedrohung der klassischen Musik ist das Ergebnis eines gravierenden Wertewandels. Wir leben im Zeitalter ökonomischer Obsession. Alles unterliegt dem Kosten-Nutzen-Kalkül, dem Abwägen von Einsatz und Ertrag, dem erwarteten Return, ohne den ein Investment nicht lohnt. Aber die Rendite eines Konzertbesuchs lässt sich genauso wenig berechnen, wie wenn Kinder ein Instrument lernen — auch wenn wir alle wissen, wie wichtig die Künste für die Menschen sind.

War es nicht immer so, dass Kunst sich einem Markt unterwerfen muss? Auch Künstler müssen bezahlt werden.

Nagano: Ich will ein Beispiel für den Wertewandel bringen, das die jungen Menschen so stark betrifft. Das ist das nahezu weltweite Pisa-Diktat in der Bildungspolitik. Das Bildungssystem eines Landes gilt dann als vorbildlich, wenn das Land bei Pisa gut abschneidet. Aber weder Sprachen noch die Künste spielen hier eine Rolle: Philosophie, Literatur, Malerei, die klassische Musik — nach Pisa für ein leistungsstarkes Bildungssystem alles unbedeutend. Was für ein bornierter Bildungsbegriff liegt dem zugrunde? In den Schulen drängt dieses neue Bildungsverständnis die Künste und mit ihnen die klassische Musik dramatisch zurück. Das macht mir große Sorgen.

Wen sehen Sie in der Verantwortung?

Nagano: Verantwortlich dafür, dass klassische Musik nicht weiter verdrängt wird, sind wir alle — jeder an seiner Stelle. Als Dirigent darf und will ich mich nicht darauf verlassen, dass meine Konzerte ausverkauft sind. Wenn ich Menschen für Musik begeistern will, weil ich felsenfest davon überzeugt bin, dass sie ihr Leben verändern kann, dann muss ich die Musik zu ihnen bringen: in ungewöhnlichen Konzerten an zum Teil ungewöhnlichen Orten mit ungewöhnlichen, neuen Ideen, die ihnen zeigen, dass diese große Musik nicht nur noch immer aktuell ist, sondern heute vielleicht bedeutender als je zuvor.

Also liegt es an den Künstlern selbst?

Nagano: Wir Künstler brauchen auch die Unterstützung politischer Entscheidungsträger, weil ernste Kunst, für die man sich anstrengen muss, eine Gesellschaft immer etwas kostet. Sie ist, in rein monetärer Hinsicht, nicht unmittelbar gewinnbringend. Wenn Politiker nur motiviert und kreativ genug wären, um unser Musikerziehungssystem ein Stück weit wiederzubeleben und die klassische Musik in ihrer Bedeutung für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen wieder etwas nach vorne zu rücken, wäre unglaublich viel gewonnen.