Herr Weibel, Sie spielen den Maler mit Pinsel, Farbe und Leinwand gegen den Arzt mit Röntgenstrahlen und Computer aus. Fordern Sie mehr Wissen vom Künstler?
Bildung und Kultur Peter Weibels Abrechnung
Interview Der Medienpapst erklärt, was Künstler und Politiker alles falsch machen, weil sie das Bildungsideal aufgegeben zu haben scheinen. Davon profitieren andere.
Peter Weibel hat eine Gastprofessur an der Kunstakademie Düsseldorf angetreten, die von den Freunden und Förderern zu deren hundertjährigem Jubiläum finanziert wird. Der Medienguru wurde 1944 in Odessa geboren und lebte in seiner frühen Kindheit in einem Flüchtlingslager. Seit 1999 ist er Vorstand des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe. Außerdem leitet er das Peter Weibel-Forschungsinstitut für digitale Kulturen an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Im Gespräch liest er den Politikern und Künstlern die Leviten.
Peter Weibel: Die Trennung von Kunst und Wissenschaft datiert etwa ab 1600. Leonardo da Vinci nahm noch das Skalpell und schaute unter die Oberfläche, wenn er die Haut malen wollte. Später wurden Mikroskop und Teleskop als sanfte Skalpelle erfunden, um zu sehen, was das natürliche Auge nicht sehen kann.
Sind die Maler zu dumm?
Weibel: Ja. Sie arbeiten seit Jahrhunderten mit den gleichen Werkzeugen und mit der natürlichen Wahrnehmung, dem Auge. Währenddessen haben die Wissenschaftler neue Apparate erfunden und dadurch den Bereich des Sichtbaren enorm erweitert. Die Wissenschaft beginnt, wo die Perzeption endet.
Wollen die Maler so tief in die Wirklichkeit eindringen? Wollen sie nicht eher abstrakt mit Farben und Formen spielen?
Weibel: Das Spiel mit Farben und Formen wiederholt sich, die Ergebnisse sind belanglos. Maler wie Klimt und Schiele haben ihr Leben lang nackte Frauen gemalt und das Genre der gespreizten Schenkel gepflegt. Das kann doch einen Künstler nicht zufrieden stellen, während sich in der Welt alles verändert.
Sie hielten 1968 eine Schimpftirade in der Universität Wien unter den Lenin-Worten „Was tun“. Die Aktion galt als Höhepunkte der Studentenbewegung in Österreich. Wie beurteilen Sie die heutigen Performances?
Weibel: Sie sind obskur geworden. Sie machen Seelenmassage und Psychotherapie auf unterstem Niveau.
Was fordern Sie generell vom Künstler?
Weibel: Er darf die Gestaltung der Welt nicht der Politik und der Wissenschaft überlassen. Joseph Beuys sprach von der sozialen Plastik, um den Anspruch anzumelden, auch die Gesellschaft zu gestalten, nicht nur eine Plastik.
Seit 1999 beweisen Sie am ZKM in Karlsruhe, dass neue Kulturtechniken, neue Medien und Künste sowie interaktive Installationen dringend notwendig sind. Was fordern Sie von den Kunstakademien?
Weibel: Sie müssen eine Plattform für Versammlungen werden, wo die Bürger sich selbst bilden. Es gilt nicht mehr: Hier ist der Professor, hier der Schüler. Heute muss jeder von jedem lernen. Wenn ich den Spruch von Beuys ernst nehme, dann ist nicht nur jeder ein Künstler, sondern jeder auch ein Lehrer.
Ein Beispiel?
Weibel: Im ZKM zeigen wir die Ausstellung „Open Codes“. Es gibt freien Eintritt, freie Getränke, freies Obst, freies Wlan in einer entspannten und gleichzeitig anregenden Atmosphäre mit bequemen Möbeln von Vitra. Die Besucher kommen in die Ausstellung, setzen sich zusammen, setzen sich mit den präsentierten Werken auseinander, lesen, diskutieren, halten Vorträge. Damit schaffen wir einen Arbeitsplatz für jeden Besucher. Das Museum ist Co-Working Space, Lounge und Labor.
Zum Wohl der neuen Medien?
Weibel: Genau. Nur mit Medienkompetenz können wir mit dieser Welt besser umgehen.
Erschwert unsere Tradition den Zugang zu den digitalen Medien?
Weibel: Ja, denn unsere Ausbildung ist falsch. Kunstgeschichte müsste um Technik- und Wissenschaftsgeschichte erweitert werden.
Haben Sie ein Aha-Erlebnis?
Weibel: Ein neunjähriger Knirps steht am Sonntagvormittag vor einem computer-basierten Kunstwerk und sagt dem Papa, einem Bankdirektor: „Papa, ich habe es dir schon zweimal erklärt. Soll ich es noch einmal erklären, oder kannst du es schon?“ Die junge Generation ist mit den neuen Techniken aufgewachsen.
Ist die berühmte Düsseldorfer Kunstakademie rückständig?
Weibel: Vermutlich schon.
Kann man die Akademien noch retten?
Weibel: Ich glaube nicht in der jetzigen Form. Es gab im 18. Jahrhundert die Akademie der Schönen Künste. Als man merkte, die Kunst ist nicht mehr schön, wurde daraus die Akademie der Künste. Bauhaus und Ulm waren nur noch Hochschulen für Gestaltung. Im 21. Jahrhundert sollte es um Daten und Information gehen, transdisziplinär und transkulturell.
Wie sehen Sie die Zukunft der Medien in Europa?
Weibel: Europa wird immer rückständiger. Eine Generation von Medienkünstlern hat außerhalb der Akademien in Europa ungeheuer viel geschaffen. Aber das wird in China weiterentwickelt, nicht bei uns. Die Europäer geben gewissermaßen den Löffel an die Chinesen ab. Wir haben zwar die Medienkunst erfunden, aber die Institutionen sind müde geworden. Wie auch Europa müde geworden ist.
Die deutschen Politiker reden aber doch von Bildung?
Weibel: Es ist eine leere Phrase, wie das Wort Gerechtigkeit. Politiker wissen weder, was Gerechtigkeit noch Bildung bedeutet. Sonst würden sie es nicht zulassen, dass die helfenden Berufe, die wir brauchen, wie Krankenschwestern und Pfleger, nichts verdienen; aber die Berufe, die wir nicht brauchen, wie die Fußballspieler, Trikot-Millionäre sind. Sie verdienen durch die Fernsehgebühren, weil das Geld aus der Werbung nicht dem Fernsehen, sondern den Fußballspielern zukommt. Deswegen zahlen wir undemokratische Zwangsgebühren. Politiker verstehen nichts von der Datenökonomie.
In den VAE dient die Bildung dazu, die Emirate selbstständig zu machen und die Frauen zu fördern. Was läuft bei uns falsch?
Weibel: Bildung ist ein zugkräftiger Name für Asien und Arabien, nicht für Europa. Wir haben das Bildungsideal aufgegeben. Das Wort „Bildungskrise“ oder „Lehrerkrise“ hat seine Berechtigung.