Kritik „Prima facie“: Über Recht und Gerechtigkeit

DÜSSELDORF ·  Tessa ist brillant. Rhetorisch auf den Punkt kommen die Plädoyers als erfolgreiche Straf-Verteidigerin. Und doch kämpft sie gegen ihren eigenen Schatten. Schlägt Arme und Bein hoch und tänzelt wie im Boxring.

Prima Facie, ein Gerichtsdrama: Die Hauptdarstellerin Lou Strenger steht im Regen.

Foto: Sandra Then

Mit Kraft, peitschendem Sound und Rumms – so erkämpft sich die junge Frau aus einfachem Haus eine steile Karriere, arbeitet in einer Renommier-Kanzlei, in Konkurrenz zu Absolventen privater Unis. Elitär sind sie, so Tessa. Vermutlich aus gutem Haus. Tatort: Düsseldorfs große Schauspielbühne.

Ihre Mutter indes muss putzen gehen. Als leidenschaftliche Kampfsportlerin auch in eigener Sache geriert sich Tessa – einzige Figur in „Prima facie“ – einem Gerichtsdrama von Suzie Miller, das in Aufbau und Argumentations-Strategie an Stücke von Ferdinand von Schirach erinnert. Anwalt im Erstberuf auch er, wie die Australierin Suzie Miller. Sie macht in diesem Monolog der Strafverteidigerin Tessa das Thema „sexualisierte Gewalt“ zum Thema und damit Furore.

Es geht um die Vergewaltigung durch den befreundeten Anwalt Julian, von dem sie anfangs schwärmt, ihn attraktiv findet und mit ihm im Bett landet. Doch sie muss sich plötzlich übergeben, verweigert den Geschlechtsverkehr. Julian setzt sich über ihr „Nein“ hinweg. Daher zeigt Tessa ihn an und macht ihm den Prozess. Plötzlich wird die Sportsfrau, die als Juristin fest an das System glaubt, in ihren Grundfesten erschüttert. ‚Schuldig ist der, dem die Schuld bewiesen wird‘ – sie weiß ja, was Julian ihr angetan hat. Doch da sie sich sofort danach geduscht hat, waren keine objektiven Beweise mehr vorhanden.

Daher der Titel: Denn der Ausdruck „Prima facie“ bezeichnet den ersten Eindruck von einer Situation. Doch beim Vorwurf von sexualisierter Gewalt muss er nicht unbedingt dem wahren Tatbestand entsprechen, ist aber häufig Grundlage für die Urteilsfindung. Zumal auch Tessa in und nach ihrem Prozess darüber klagt, dass in entscheidenden Positionen Männer sitzen – als Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, Zeugen. Sie weiß nur zu gut: So lange der geringste Zweifel an der Tat besteht, genügt ihre Aussage nicht für eine Verurteilung Julians.

„Prima facie“ ist das Stück der Saison. Beleuchtet es doch hautnah Systemschwächen, über die vor der „Mee-too“- Bewegung nur selten debattiert wurde. Nach spektakulärem Erfolg am Londoner Westend und am New Yorker Broadway erobert das knapp 100-Minuten-Stück jetzt auch Theater in Deutschland. An dreizehn Theatern der Republik (wie auch Düsseldorf) wird Millers One-Woman-Show bis zum Sommer gespielt – meist von renommierten Darstellerinnen.

Zu denen zählt auch Lou Strenger: Sie ist mal Anklägerin oder Angeklagter, mal Staatsanwalt oder Verteidigerin. Durch ihre virtuose Verwandlungskunst und flinke Rollenwechsel verwandelt die auch in Film und TV gefragte Strenger (sie war einige Jahre im Düsseldorfer Ensemble) den Text der Anwältin und Autorin Miller in eine aufregende Achterbahnfahrt der Emotionen.

Zunächst gibt sie sich als geerdete Frau, die mit beiden Beinen fest im Rechtssystem steht. Der Rechtsstaat funktioniert, glaubt sie. Doch in den Wochen und Jahren nach dem Beginn des von ihr angestrengten Verfahrens wird sie immer kleinlauter, zerbrechlicher. Sie verliert das Vertrauen. Sie fühlt sich, als ob sie im Regen stehengelassen wurde. Eine starke Metapher, die Regisseur Philipp Rosendahl und Ausstatterin Esther Bialas auf die Bühne bringen. Ebenso die Anzahl der Tage, die seit der Tat verstreichen. Sie leuchten wie ein Fanal auf einer Bühnenleinwand. Tag 780. Kein Wunder, dass die Erfahrung dieses langwierigen Verfahrens Tessa entkräftet und sie desillusioniert.

Auf der Bühne: Sitzreihen wie bei Gericht. Lou Strenger klappt Sitze hoch und runter, balanciert dazwischen oder landet auf dem Boden. Bis auf dieses Bild vertraut die Regie ganz der Darstellerin, die sich verausgabt und am Ende lange bejubelt wird.