Ruhrtriennale: Anmutiger Tanz der Partikel

Romeo Castellucci schleudert Strawinskys 100 Jahre altes Frühlingsopfer in die Gegenwart.

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Ein Ballett ohne Tänzer: Zur Eröffnung der Ruhrtriennale lässt Regisseur Romeo Castellucci stattdessen das tanzen, was von Mensch und Tier am Ende übrig bleibt — Knochenasche. Der Italiener ist kein Choreograph, hat sich aber mutig mit Igor Strawinskys Ballett „Sacre du Printemps“ (Frühlingsopfer), skandalumtost 1913 in Paris uraufgeführt, ein musikalisches Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts vorgenommen.

Dem geübten Bühnen-Provokateur gelingt in der Duisburger Gebläsehalle jedoch ein großer Wurf. Castelluccis Inszenierung, von Intendant Heiner Goebbels keck als Weltpremiere angekündigt, verleiht dem Ursprungswerk tatsächlich eine zusätzliche Dimension.

Die Sacre-Musik allein nimmt den Zuhörer schon mit — fesselt und bedrückt in ihrer hämmernden Intensität, zerschnitten von Klangfetzen und kreischenden Bläser-Passagen. Dazu lässt Castellucci aus 40 beweglichen Behältern an der Decke sechs Tonnen Knochenasche auf die leere Bühne niedergehen, vom Computer punktgenau gesteuert zu Rhythmus und Dynamik der Musik. Der weiße, geruchlose Staub windet sich in dicken Strahlen, wallt wie ein zarter Voile, platscht wie aus Kübeln.

Zauberhaft sieht dieser anmutige, gelegentlich glitzernde Tanz der Partikel aus, grausig ist der Gedanke an die Herkunft aus qualvoller Massentierhaltung. Mit dieser Regie-Volte schleudert Castellucci das 101 Jahre alte Stück in die Gegenwart, vernachlässigt aber nicht das titelgebende Opfer für den Gott der Fruchtbarkeit — das Tiermehl dient normalerweise als Dünger.

Zugleich weist er aber auch 100 Jahre zurück. Immer heller beleuchtet der Regisseur die Bühne, wegen des stehenden Staubs wird sie aber auch immer undurchschaubarer. Im zweiten Teil des Stücks übernehmen die pendelnden Maschinen den aktiven Part, erinnern in ihrer grobmotorischen Schemenhaftigkeit an Gefechtsszenen aus dem Ersten Weltkrieg.

Mehr als die ästhetische Verwendung des Knochenmehls verstören die nüchternen Fakten das Publikum. Unbehaglich rutschen die Zuschauer auf ihren Sitzen herum, als nach 35 Minuten zu den letzten Takten knappe Sätze auf einen Vorhang projiziert werden: die chemische Zusammensetzung und wie das Schlachthofmaterial aus 75 Rindern („für den menschlichen Verzehr geeignet“) durch mehrfaches Erhitzen zum erregerfreien Mehl wird.

Nach einem letzten Tutti-Schlag des gesamten Orchesters herrscht Totenstille. Auf der Bühne erscheinen weiß vermummte Gestalten, schaufeln stumm die Asche in Container, sortieren Knochenstücke in einen Tragekorb. Applaus erscheint unpassend, ein paar versuchen es dennoch. Die meisten gehen stumm, den Kopf voller Musik und Bilder.