Salzburger Festspiele Gorkis „Sommergäste“: Ein Panoptikum von schillernden Typen

Salzburg. · Ein festspielwürdiger Abend in Salzburg: Evgeny Titov dreht bei seiner Inszenierung von Gorkis Drama Sommergäste ganz schön auf.

Matthias Buss (Kirill Dudakow, M.) und Mira Partecke (Olga Aleksejewna, l.) spielen in Maxim Gorkis Schauspiel „Sommergäste“, das im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Perner Insel Premiere hatte.

Foto: dpa/Barbara Gindl

Die eine winselt, die andere schnauzt, eine dritte tanzt, zappelt und schlackert mit ihren Gliedmaßen. Die Ärztin Marja, die hyperaktive Ingenieurs-Gattin Julija oder die resignierte Ehefrau des Rechtsanwalts Warwara. Überspannte Frauen, grobe Männer. Jeder gönnt sich seinen Auftritt. Dabei meistens ein Sektglas in der Hand. „Sommergäste“ treffen sich auf der Bühne im ehemaligen Salinenwerk auf der Perner Insel, in der Nähe von Salzburg. Es geht ihnen wirtschaftlich gut, sie sind aber seelisch auf den Hund gekommen. Eine erschöpfte, ausgehöhlte Gesellschaft trifft sich im Sommer auf dem Lande. Man hat falsch geheiratet, ist unglücklich verliebt, meist aber übersättigt und übt sich nach Herzens Lust in Selbst-Zerfleischung.

Mit „Sommergäste“ – 1904, kurz vor den russischen Revolutionen (1905 und 1917) uraufgeführt – kritisierte Maxim Gorki scharf den damals erstarrten, stehen gebliebenen Adel und das Großbürgertum. Heute, so will uns Evgeny Titov, der Regisseur der Aufführung bei den Salzburger Festspielen, zeigen, sind wir gemeint. Der sogenannte, vielleicht gut situierte, Mittelstand.

Warwara (Genija Rykova) und Dichter Jakow (Thomas Dannemann) durchschauen die Lage  – „Wir langweilen uns zu Tode“, heißt es. Die reife, frustrierte Ärztin Maja (Marie-Lou Sellem) indes begehrt den Jung-Rebellen Wlas (Paul Behren), wehrt sich zunächst, bis sie einwilligt: „Ich bin ausgehungert“. Die nervös hungrige Julija (Dagna Litzenberger Vinet) tänzelt und will mit Sex die Langeweile vertreiben. Nervensägen hier, skurrile Typen dort – wie  Onkel Semjon (Martin Schwab), der mit einer Geldtasche, gefüllt mit einer Million, herumläuft und sie möglichst nicht seinem Neffen Pjotr nicht vererben will.

Titov bietet nicht nur ein breitgefächertes Panoptikum von schillernden, manchmal schrägen Typen mit klaren Konturen. Mehr noch: Mit Bravur gelingt es ihm und den Schauspielern, den quälenden Überdruss nicht langweilig wirken zu lassen. So war am Ende die Begeisterung groß.

Das richtige Wechselspiel von Tempo und Langsamkeit

Titovs Inszenierung von „Sommergäste“ ist ein Überraschungs-Erfolg. Denn erst vor knapp sechs Wochen sprang Titov ein für die renommierte Regisseurin Mateja Koleznik. Bekannt wurde der 38-jährige Wahl-Berliner Titov – geboren in Kasachstan, Schauspieler in St. Petersburg, Regie-Student am Wiener Max-Reinhardt-Seminar mit Abschlussarbeit am Wiener Burgtheater – durch zwei Inszenierungen am Düsseldorfer Schauspielhaus.

Nach Arthur Millers „Hexenjagd“ (2018), die bundesweit wegen seiner packenden Schauspieler-Führung gelobt wurde, folgte im Februar die Dramatisierung von Bulgakows Roman „Hundeherz“.

Sein untrügliches Gespür dafür, Darsteller zu unverwechselbaren, überspitzten Charakteren zu machen, das richtige Wechselspiel von Tempo und Langsamkeit und ein sicheres Gefühl für Bühnen-Räume – all diese Vorzüge, die sich in Düsseldorf abzeichneten, kann Titov auch in der ehemaligen Salinen-Halle in Hallein in die Waagschale legen. Er und Raimund Orfeo Voigt (Bühne) entwerfen Räume mit Holzlammellen, die sich in Zeitlupen-Tempo veschieben, immer enger werden, die degenerierte Society während einer Techno-Party einzwängt, am Ende den teilweise lebensmüden Figuren die Luft abschnürt. Zusammen mit einem Ensemble namhafter Mimen (durch Kino und TV bekannt) gelingt eine festspielwürdige Inszenierung, die Titov den endgültigen Durchbruch bescheren könnte.

Einziges Manko – häufig in altem Industrie-Gemäuer: die Akustik. So sind anfangs einige Mimen in den letzten Reihen schwer zu verstehen. Gottlob laufen englische Untertitel. Während pausenloser zweieinviertel Stunden legt sich das.

Sei’s drum: Titovs Talent für großes Drama, Spannung und sensible Personenführung bleiben unverkennbar – bereits vorher entdeckt von Opernintendanten in Wiesbaden und Berlin (Komische Oper), wo Titov 2020/21 als Opernregisseur debütieren wird.