Interview Sozialpsychologe Harald Welzer: „Irgendwann haben wir die AfD vergessen“

Der Sozialpsychologe Harald Welzer über den Umgang mit der Neuen Rechten, seine Initiative Offene Gesellschaft und die Überbewertung von Wissen und Bildung.

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Düsseldorf. Wer setzt die Themen einer Gesellschaft? Der Sozialpsychologe Harald Welzer (58) glaubt, eine Minderheit. Er will das ändern — unter anderem mit der Initiative Offene Gesellschaft.

Herr Welzer, die AfD ist im neuen Landtag von NRW mit 16 Sitzen vertreten. Politik und Medien müssen lernen, damit umzugehen. Was kann man falsch machen?

Köln im Ausnahmezustand - AfD-Bundesparteitag in der Rheinmetropole
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Harald Welzer: Wenn sie im Landtag sitzt, ist bereits viel falsch gemacht worden. Aber damit ist erst einmal ein Sachverhalt geschaffen, mit dem man jetzt ganz normal parlamentarisch und medial umgehen muss wie mit jeder anderen Kraft auch.

Ist der AfD in ihren Anfängen zu viel Aufmerksamkeit geschenkt worden?

Hunderte demonstrieren gegen Petry und Pretzell in Düsseldorf
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Welzer: Definitiv. Wenn man sich ihre Geschichte anguckt, gab es das bemerkenswerte Phänomen, dass bei einer Partei, die noch gar keine parlamentarische Relevanz hatte, Äußerungen von Menschen, die noch keiner kannte, immer sofort aufgegriffen wurden, bis hin zum SMS-Verkehr. Dann luden die Talkshows aus Spektakelgründen Menschen wie Björn Höcke ein. Auf diese Weise ist die AfD zu einem Phänomen geworden, das ihrer eigenen Größe und Bedeutung überhaupt nicht entspricht. Daran haben die Medien einen sehr großen negativen Anteil.

Aber die Aufgabe von Medien ist es doch, Aufklärung zu betreiben und schon die Anfänge rechter Entwicklungen zu begleiten.

Protest gegen AfD-Veranstaltung in Krefeld
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Welzer: Dieser Anspruch hat natürlich auch mit der deutschen Geschichte zu tun. Insofern ist die Aufmerksamkeit gegenüber rechten Tendenzen mehr als berechtigt. Aber man muss zugleich zur Kenntnis nehmen, wie diese Aufmerksamkeit von der Neuen Rechten als Strategie umgedreht wird. Dann ist manchmal das Ignorieren dieser Bestrebungen politisch wichtiger, als mit der Aufklärungsabsicht das Falsche zu bewirken.

Sie sind Mitbegründer der Initiative Offene Gesellschaft, die derzeit mit öffentlichen Tafeln zum Essen, Trinken und Diskutieren über die Frage einlädt, welches Land wir sein wollen. Was ist das Ziel der Aktion?

Welzer: Sie ist entstanden, weil es vor allem im vergangenen Jahr eine Schieflage der politischen Kommunikation gab. Dabei ging es nicht nur um das Hochschreiben und Hochdebattieren der AfD, sondern darum, dass auch die Themen von Rechts vorgegeben wurden mit den Stichworten Wut, Angst und Abgehängtsein. Wir wollten diese Schieflage korrigieren, weil eine Bürgergesellschaft in der Demokratie in der Lage ist, die Themen selber zu setzen, und wir der Mehrheit wieder eine Stimme geben wollten. So sind die Debatten zustande gekommen. Die Annahme war: Es gibt eine große Mehrheit von Menschen, die für diese Gesellschaft sind und diese ganze Hysterie des Dagegenseins nicht mitmachen. Dafür wollten wir ein Forum schaffen.

Wie soll es über die Debatten hinaus gelingen, Engagement zu fördern und die Mehrheitsthemen durchzusetzen?

Welzer: Die Debatten sind thematisch unterschiedlich gelagert. In Hannover ist zum Beispiel eine ganze Serie angestoßen worden, jeweils mit einem Artikel des Grundgesetzes als Überschrift. An anderen Stellen war es offenbar schon allein sinnvoll, die Frage zu debattieren, welches Land wir sein wollen. Das ist ein Wert an sich und es ist den Leuten vor Ort anheimgestellt, ob und wie sie das weiterführen. Ein großer Schritt ist uns am vergangenen Samstag gelungen, als bundesweit fast 500 solcher Essenstafeln ausgerichtet wurden. Zum Teil mit 2000 Teilnehmern. Uns geht es darum zu zeigen, es gibt eine vitale Bürgerschaft in diesem Land, die an dem Erhalt der Demokratie interessiert ist und auch etwas auf die Beine stellt. Ob das nach der Bundestagswahl weitergeht, müssen wir sehen. Aber es besteht in verschiedenen Städten schon die Absicht, diesen Tag der offenen Gesellschaft zu institutionalisieren.

Wenn es darum geht, der schweigenden Mehrheit wieder eine Stimme zu geben, welchen Anteil haben die sozialen Netzwerke an ihrem Verstummen?

Welzer: Ich fürchte, einen großen. Es gibt inzwischen eine Reihe von Studien darüber, wer diese Kommentierungsmöglichkeiten im Netz nutzt, Verschwörungsgeschichten verbreitet und Hassmails schreibt. Offensichtlich sind es relativ abgrenzbare Personengruppen. Vielfach ist der falsche Eindruck entstanden, dass diese Form der Hasskommunikation und Wut ein verbreitetes gesellschaftliches Phänomen ist. Aber das ist eine Täuschung aufgrund der Wirksamkeit dieser Direktmedien. Man kann das verstehen, denn wer von solchen Hassmails betroffen ist, der denkt, es hat sich viel verändert im Land. Aber es schreiben nur die Dauererregten. Die anderen haben Besseres zu tun.

Also ist es wichtig, die schweigende Mehrheit dazu zu ermutigen, ihr Schweigen zu brechen?

Welzer: Ich würde es positiv formulieren. Mir ist im vergangenen Jahr sehr deutlich geworden, wie wichtig die Möglichkeit des analogen Austausches ist. Jeder redet davon, dass unsere Zukunft digital ist. Aber das stimmt einfach nicht. Direkter Austausch ist etwas völlig anderes als medialer Austausch: weil man sich zeigen muss, weil die Argumente in irgendeiner Form belastbar sein müssen. All das benötigt man in der Anonymität des Netzes nicht. Viele Menschen brauchen auch das Gefühl, dass sie nicht allein mit ihrer Meinung sind, sondern dass es andere Menschen gibt, mit denen man gewinnbringend diskutieren kann. Das ist für eine Demokratie von enormer Wichtigkeit.

Am Wochenende hat es nicht nur die Tafeln gegeben, sondern auch die muslimisch initiierte Demonstration in Köln gegen den Terror. Die Beteiligung war gering. Gibt es nicht auch ein Recht zu schweigen oder hat Sie die Beteiligung enttäuscht?

Welzer: Selbstverständlich gibt es ein Recht zu schweigen und Aufforderungen zum Artikulieren nicht nachzukommen. Niemand muss sich zum Demonstrieren drängen lassen. Die andere Seite ist, dass es ein gutes Zeichen gewesen wäre, wenn über mehr Teilnehmer eine größere Sichtbarkeit hergestellt worden wäre.

An der Integrationsdebatte entzündet sich viel Aufgeregtheit. Überschätzen oder unterschätzen wir unsere Integrationsfähigkeit?

Welzer: Dieses Land wäre ohne Integration überhaupt nicht existent. Es besteht im Grunde seit dem Zweiten Weltkrieg aus einer unablässigen Integration unterschiedlichster Personengruppen. Was man auch an den Vertriebenen ablesen kann: Integration ist kein Vorgang von Monaten oder wenigen Jahren, sondern dauert sehr lange. Und natürlich integrieren sich Menschen je nach Alter, Bildungsstand und Herkunft unterschiedlich schnell. Aber wenn man sich die Geschichte der Bundesrepublik anguckt, muss man nicht sonderlich aufgeregt sein, was die Fähigkeit angeht, Menschen integrieren zu können. Man sollte auch deswegen nicht aufgeregt sein, weil die Flüchtlingszahlen in den nächsten Jahren noch radikal anwachsen und nie wieder zurückgehen werden. Von daher müssen sich alle modernen Gesellschaften mit dem Thema beschäftigen.

Die neue Koalition in NRW strebt eine neue Sicherheitsarchitektur an. Ist das eine Gefahr für die offene Gesellschaft oder kann sich beides ergänzen?

Welzer: Was in jedem Fall schlecht ist, ist Aktionismus, ohne zu wissen, welche Maßnahmen greifen und welche nicht. Offene Gesellschaften sind historisch belegbar die sichersten Gesellschaften. Gegen den gegenwärtigen Terrorismus gibt es letztlich keine Sicherheitsmittel. Wenn Leute mit Autos in Menschenmengen fahren, lässt sich das nicht verhindern. Ob es eine neue Sicherheitsarchitektur geben muss, wage ich zu bezweifeln. Vielfach ist es ja so, dass die vorhandenen Architekturen nicht hinreichend ausgestattet sind, um die Wirksamkeit zu entfalten, die sie haben müssten. Dass sich Terrorismus mit immer mehr Überwachung bekämpfen lässt, ist eine Illusion.

Sie vertreten die These, dass bei der Frage nach einer offenen Gesellschaft Bildung und Wissen überbewertet werden. Wie kommen Sie darauf?

Welzer: Der Historikerkollege Ulrich Herbert hat einmal gesagt: Ich muss nichts über die SA wissen, um zu wissen, dass ich die Wohnung meines türkischen Nachbarn nicht anzünden darf. Genauso ist es ein Trugschluss zu glauben, dass die Anhänger der Neuen Rechten zu wenig Bildung hätten. Sie ziehen nur andere Schlüsse daraus. Zu glauben, man müsse nur die richtigen Sachen sagen, damit die Menschen die richtigen Schlüsse daraus ziehen, ist eine grundfalsche Vorstellung. Es ist viel wichtiger, eine gesellschaftliche Haltung zu erzeugen, in der es Menschen ganz selbstverständlich für inakzeptabel halten, andere Menschen herabzusetzen oder gar körperlich anzugreifen. Aber das erreichen Sie nicht mit Bildung.

Geht es eher um eine Bildung des Herzens?

Welzer: Nein, es geht um eine Bildung durch Praxis. Das beste Beispiel sind die Studien, die zeigen, dass die Ängste vor Zuwanderung bei jungen Menschen so gering sind wie nie zuvor in der Geschichte. Warum? Weil sie aus ihren Schulen gar nichts anderes kennen. Das ist Bildung durch Praxis. Die Generation der heute 20-Jährigen ist viel weniger fremdenfeindlich oder gar rassistisch als meine Generation.

Eine Lehre in dieser Zeit des Populismus ist, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist, sondern dass man um sie kämpfen muss. Wie groß ist Ihre persönliche Sorge um die Zukunft unserer Demokratie?

Welzer: Kommt darauf an, wohin man blickt. Weltweit betrachtet, ist die Sorge sehr groß. Europäisch betrachtet, gibt es ziemlich besorgniserregende Entwicklungen in Polen und Ungarn. Was Deutschland angeht, ist die Gefahr einer neurechten Entwicklung aus meiner Sicht ausgesprochen gering. Ich halte es sogar für möglich, dass die AfD sich erstens noch weiter selbst zerlegt, zweitens gar nicht in den Bundestag kommt und wir sie drittens irgendwann so vergessen haben wie heute die Piraten.

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