Streitbarer Geist und „Redner der Republik“ - Walter Jens ist tot
Verstummt war der wortgewaltige „Redner der Republik“ schon lange. Seine Demenz-Erkrankung hatte Walter Jens in einer ganz eigenen Welt gefangen. Mit 90 Jahren ist er nun gestorben. Als moralische Instanz wird er sobald nicht vergessen werden.
Tübingen. Sein Abschied von der Welt hat viele Jahre gedauert. Zuletzt konnte Walter Jens nicht mehr reden und nicht mehr schreiben. Einer der größten Intellektuellen der deutschen Nachkriegsgeschichte war durch seine Demenz-Erkrankung noch zu Lebzeiten verstummt.
Doch er hing an dieser Existenz: Der Mann, für den ein Leben ohne die Künste früher so unvorstellbar schien, dass er dann lieber durch eine tödliche Spritze sterben wollte, hat bis zuletzt am Leben festgehalten, wie seine Familie erzählt. Am Sonntagabend ist der Tübinger Professor und langjährige Präsident der Berliner Akademie der Künste im Alter von 90 Jahren gestorben.
Immer waren es die Künste, für die sich der Literaturliebhaber und -wissenschaftler zeitlebens einsetzte. Jens war einer der profiliertesten streitbaren Geister in Deutschland, der sich von keinem Kanzler, Präsidenten oder anderem Landesherrn einschüchtern ließ. „Ich habe gern und oft verloren und bin ein klein wenig zernarbt“, sagte er einmal. „Man muss auch eher verlieren können als sich anzupassen.“
Viele sahen in Walter Jens eine „moralische Instanz“ und einen engagierten Demokraten. Der sprachmächtige Aufklärer und Christ brillierte mit einem Bildungskanon des Universalwissens, der andere staunen ließ - vom Neuen Testament und altgriechischen Tragödien über Philosophie bis zur Mondlandung oder dem von ihm so geliebten Fußball („ein königliches Spiel mit allen Unberechenbarkeiten des Lebens“).
Eigentlich wollte der Hamburger Bankierssohn Strafverteidiger oder Prediger werden. 1947 begann er mit dem Schreiben - im Laufe der Jahrzehnte entstanden Romane, Dramen, Hörspiele und Essays. 1950 kam er als Dozent an die Universität Tübingen, wo er 38 Jahre lang lehrte und den bislang bundesweit einzigen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik aufbaute. 1950 stieß er auch zu der legendären Schriftstellervereinigung „Gruppe 47“.
Im selben Jahr gelang ihm der Durchbruch als Erzähler mit dem utopischen Roman „Nein. Die Welt der Angeklagten“. Später übersetzte er Evangelien aus dem Neuen Testament, erzählte die Odyssee nach und widmete sich dem „Fall Judas“, den er ungerecht beurteilt sah. Viele Neuauflagen erlebte sein Standardwerk „Statt einer Literaturgeschichte“ von 1957.
Vor allem aber prägte er wie nur wenige als gesellschaftspolitisch engagierter Moralist und Pazifist das geistige Nachkriegsdeutschland. Immer war Jens aneckend oder anregend, beides war ihm recht. Mit Emile Zolas Dreyfus-Parole „J'accuse!“ („Ich klage an“) meldete er sich zu Wort, wo immer er das Recht mit Füßen getreten sah. Sein geschliffenes Wort war gefürchtet und hatte Gewicht in der Republik. Gemeinsam mit seiner Frau Inge wurde er in den 1980er Jahren zu einer Galionsfigur der Friedensbewegung.
1984 beteiligte er sich an Sitzblockaden vor dem amerikanischen Atomwaffendepot Mutlangen, während des Golfkriegs 1990 versteckte er zwei desertierte US- Soldaten in seinem Tübinger Haus und kam dafür wegen Beihilfe zur Fahnenflucht vor Gericht. „Intellektuelle müssen sich einmischen und warnen“, war sein Glaubensgrundsatz. „Das Wenige, was wir tun können, das kann man von uns auch erwarten, sonst mag man nicht mehr so gerne in den Spiegel schauen.“
Wenn ihm etwas verächtlich war, dann waren es Anpasser und Denunzianten. Im Mai 1989 wählte die Berliner Akademie der Künste Walter Jens zu ihrem Präsidenten. Nach der deutschen Wiedervereinigung betrieb er nach anfänglicher Skepsis den Zusammenschluss mit der Akademie der Künste der DDR, was zu vielfältigen Protesten und Austritten prominenter Mitglieder führte. Im hohen Alter musste sich Jens dann aber auch kritisch selbst nach seiner Moral befragen lassen, als seine NSDAP-Mitgliedschaft als junger Mann offenbar wurde.
Der Gelehrte verfiel in schwere Depressionen und wurde laut seiner Familie abhängig von Antidepressiva. „Kann ein 18-Jähriger nicht lernen?“, fragte er später. Er sei wohl mit vielen anderen Angehörigen der Hitlerjugend „summarisch“ in die Partei überführt worden. „Hätte ich mich anders verhalten können? Dazu fehlte mir der Mut.“ Mit Hilfe seiner Frau Inge Jens, der Herausgeberin der Thomas- Mann-Tagebücher, kam Jens im hohen Alter von 80 Jahren noch zu unverhofften Bestseller-Ehren.
Die gemeinsam verfasste und spannend zu lesende Biografie „Frau Thomas Mann - Das Leben der Katharina Pringsheim“ verkaufte sich besser als so manche Thomas-Mann-Biografie. „Zusammen waren wir gut“, sagte Walter Jens in der Zeitschrift „Sinn und Form“ dazu. Aber es habe aber auch „oft gekracht“, fügt seine Frau hinzu. 2006 wurden schließlich die Anzeichen der Demenz-Erkrankung unübersehbar.
Bei einer Autogrammstunde gelang es dem wortgewaltigen Schriftsteller plötzlich nicht mehr, seinen Namen zu schreiben. Langsam aber unaufhaltsam schritt die geistige Umnachtung voran. Es war genau ein solches Leben, vor dem er immer Angst hatte. Genau deshalb war er gemeinsam mit seinem Freund und Nachbarn, dem katholischen Theologen Hans Küng, so vehement für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe eingetreten.
„Ich weiß genau, und es steht Wort für Wort in unserer Patientenverfügung formuliert, dass mein Mann so, wie er jetzt leben muss - unfähig zu schreiben, zu sprechen, zu lesen, überhaupt noch zu verstehen - niemals hat leben wollen. Sein Zustand ist schrecklicher als jede Vorstellung, die er sich wahrscheinlich irgendwann einmal ausgemalt hat“, erzählte Inge Jens einmal der Nachrichtenagentur dpa. Und trotzdem war sie sicher: „Er hat seinen Lebenswillen durch die Demenz nicht verloren.“
Es waren die einfachen Dinge, mit denen Walter Jens früher nie etwas anfangen konnte, die ihn zuletzt erfreut haben: Ein leckeres Essen oder ein zutrauliches Tier.