Interview Timothy Garton Ash: „Die Europäer selbst sind gefordert“

Der designierte Karlspreisträger Timothy Garton Ash sieht Europa in einem erschreckend schlechten Zustand. In Aachen will der britische Historiker an diesem Donnerstag Akzente setzen.

Der britische Historiker und Autor Timothy Garton Ash.

Foto: Henning Kaiser

Oxford. Er kommt unauffällig daher. Um sich selber macht er wenig Aufheben. Der bärtige, schlanke und freundliche 61-jährige Historiker ist einer der klügsten Köpfe Europas. Der Titel seines aktuellen Buches, „Redefreiheit — Prinzipien für eine vernetzte Welt“, ist für den neuen Karlspreisträger Programm. Timothy Garton Ash verlangt eine bessere Streitkultur. An diesem Donnerstag wird er in Aachen mit dem Karlspreis ausgezeichnet.

Wie geht es Europa?

Timothy Garton Ash: Schlecht. Europa ist in einem sehr schlechten Zustand, krank in viele Richtungen. Und es hilft überhaupt nichts, wenn wir das irgendwie schönreden. Im Gegenteil: Wir müssen den Ernst der Lage erkennen. Jemand hatte vor den französischen Präsidentschaftswahlen schlimmste Befürchtungen und diese Entscheidung als „Europas Stalingrad“ bezeichnet. Das gibt die Dramatik der Stunde wieder.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash (l) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r) in Aachen nach der Verleihung des Internationalen Karlpreises 2017 den Zuschauern vor dem Rathaus.

Foto: Henning Kaiser

Haben Sie einen Gegenentwurf, sehen Sie eine Chance, etwas dagegen zu tun?

Garton Ash: Wenn es gut geht und wir jetzt keine größere Krise der Euro-Zone haben, werden wir in einem Jahr in Frankreich und vor allem in Deutschland wieder etwas mehr Optimismus entwickeln.

Sie fordern mehr Engagement der zivilen Gesellschaft für Europa. Wie kann man das konkretisieren und außerhalb der Politik etwas für Europa bewegen?

Garton Ash: Man redet immer wieder von fehlender Führung in Europa. Da wird von den Politikern zu viel erwartet. Wenn wir Europa am Leben halten wollen, dann müssen wir, die Bürgerinnen und Bürger, selbst etwas unternehmen! Fangen wir damit an — am Stammtisch, zu Hause, in kleineren Runden mit Bekannten und Freunden, die europaskeptisch sind. Die gibt es ja leider zunehmend. Für Europa plädieren, erklären, sich engagieren: Wir haben da viele Chancen und Möglichkeiten.

Mischen sich Intellektuelle und Wissenschaftler nicht zu wenig ein?

Garton Ash: In Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ sagt der Schüler: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“ Dem hält Galilei entgegen: „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat!“ Wenn ein Land Intellektuelle in diesem Sinne braucht, läuft etwas falsch im Lande. Aber ich glaube tatsächlich, dass man sich in diesen Kreisen zu wenig für Europa engagiert. Es ist inzwischen nicht mehr sexy, nicht modisch, nicht spannend. Auch für meine Studenten ist das Thema Europa nicht interessant. Die sind nicht anti-europäisch.

Weil Europa für sie normaler Alltag ist.

Garton Ash: Mehr als nur Alltag, es ist selbstverständlich geworden mit den Freiheiten, die man genießt und den Möglichkeiten, die Europa bietet. In diesem Sinne ist Europa ein Opfer des eigenen Erfolgs geworden.

In Ihrem Buch „Redefreiheit“ geht es um Digitalisierung, um die große Informationsflut, die bei vielen Ängste provoziert. Hinzu kommt die exorbitante Jugendarbeitslosigkeit vor allem in den südeuropäischen Staaten, die Flüchtlingsfrage spielt ebenfalls eine Rolle, kurzum: Viele Menschen werden immer unsicherer, fühlen sich ungerecht behandelt und schimpfen auf die Eliten. Wie kann man mit diesen Menschen ins Gespräch kommen?

Garton Ash: Sehr gute Frage! Viele Menschen in Europa haben das Gefühl, dass die Politiker in einer anderen Welt leben. Diese Leute verstehen die politische Sprache nicht mehr. Und dann kommen ein Nigel Farage, ein Donald Trump und eine Marine Le Pen, die scheinbar die Sprache des Volkes sprechen. Wenn wir den Populismus wirksam bekämpfen wollen, müssen wir eine andere Sprache finden. Das heißt nicht, dass wir komplizierte Wahrheiten und Tatsachen vertuschen oder falsch darstellen. Aber wir brauchen eine einfachere, eine direktere Sprache, auch eine emotionale.

Europa ist relativ klein und es darf den Blick auf die Nicht-Europäer nicht verlieren. Welche Rolle spielt Europa jetzt und in den nächsten Jahren?

Garton Ash: Im Moment ist es erschreckend, wie stark Europa an Gewicht, Ansehen und an Anziehungskraft verloren hat. Vor zehn Jahren, ob in Moskau, Peking, Washington oder in Istanbul, wurde die Europäische Union als kommender Akteur der Weltgeschichte und der Weltpolitik betrachtet. Sie wurde sehr ernst genommen. Das sieht man heute in diesen Städten ganz anders, diese Einschätzung existiert nicht mehr. Wir werden als Union dort nun nicht mehr ernst genommen. Das zeigt uns den Ernst der Lage.

Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen Hunden, das sind die Großmächte, Katzen, das sind die Firmen, die das Internet organisieren, und Mäusen, das sind wir, die Nutzer. Der größte Hund sind die USA, der lauteste, der jetzt dort bellt, Trump. Bereitet Ihnen das Sorgen, macht Ihnen das vielleicht sogar Angst?

Garton Ash: Und wie und wie! Wer kann nicht unruhig sein, wenn der mächtigste Mann der Welt ein egoistischer und narzisstischer, ein unerfahrener und unberechenbarer Mann wie Trump ist, zumal in der Außen- und Sicherheitspolitik?! In der Innenpolitik gibt es noch viele Gegengewichte. In der Außenpolitik ist es äußerst gefährlich.

Wie empfinden Sie die Einladung Ihrer Premierministerin an Trump?

Garton Ash: Ich habe es als sehr unwürdig empfunden, dass sie so vorschnell diese Einladung ausgesprochen hat. Bei Bush, Obama und anderen hat man ein paar Jahre gewartet, ehe es eine Einladung zum Staatsbesuch gab. Auch das zeigt die schmerzliche Paradoxie des Brexit. Der Brexit wurde im Namen der Souveränität gemacht, aber in der Praxis heißt das, dass wir weniger souverän sind. Die Bundeskanzlerin ist viel souveräner im Umgang mit Trump, auch mit Putin und Erdogan, als Theresa May.

Sie haben den Brexit massiv kritisiert und bezeichnen ihn als Ihre größte Niederlage. Sie sagen aber auch, England bleibe immer Europa. Das klingt nach Trotzreaktion, oder haben Sie wirklich die Hoffnung, dass ein großer Teil der britischen Bevölkerung doch anders denkt?

Garton Ash: Erstens eine nüchterne Feststellung: In allen Atlanten gehören die Britischen Inseln zu Europa. Zweitens: Diese Brexit-Geschichte ist erst am Anfang. Das wird nicht in zwei Jahren geregelt. Wenn die negativen Folgen des Brexit bis dahin sichtbar werden, dann kann es eine ganz andere Politik geben. Im Moment geht es der britischen Wirtschaft noch relativ gut, die negativen Folgen sind noch nicht zu spüren.

Shakespeare spricht vom „Land of such dear souls, this dear, dear land“. Was wird aus diesem England?

Garton Ash: Eine gute Frage, wenn man exakt nur nach England fragt. England als selbstständigen Staat gibt es seit über 300 Jahren nicht mehr, seit der Einigung mit Schottland 1707. Wenn sich die Schotten in einem zweiten Referendum für die EU entscheiden, dann stellt sich die Frage neu. Meine These ist, dass wir, die freiheitlichen, die liberalen, die proeuropäischen Engländer, und schon jetzt zum Thema England deutlich zu Wort melden sollten. Denn sonst wird das Thema von den Nationalisten und Populisten besetzt, auch von den Rassisten. England ist eben nicht nur Nigel Farage, England ist auch John Milton, John Stuart Mill und George Orwell. England hat eine großartige liberale Tradition.

Welche Lektion kann die EU aus diesem Rückschlag mit dem Brexit lernen? Hat sie zu lange nicht offen genug über Probleme gesprochen, hat sie Konflikte verdrängt?

Garton Ash: Ja. Ich gebe nur ein Beispiel. Es gilt fast als faschistisch, wenn man Europa kritisiert. Und deswegen hat man es versäumt, rechtzeitig die Probleme zu erkennen und anzusprechen. Die EU hat echte Probleme, und da komme ich zurück zur Redefreiheit, dem Thema meines jüngsten Buches. Es geht doch darum, dass man alle bestehenden Probleme offen anspricht, aber in der Art, die ich die robuste Zivilität nenne, also Kritik auf zivilisierte Weise. Wenn wir das nicht tun und wir erklären „So etwas sagt man nicht“, dann kommen eben die Populisten.

In Ihrem Buch befassen Sie sich auch mit Journalismus. Heute kann jeder, der im Internet unterwegs ist, Journalist sein. Wie definieren Sie guten Journalismus? Sie zitieren Ihren Landsmann Nicholas Tomalin mit der Antwort: „Dinge zu erschnüffeln und zu veröffentlichen, die manche Leute nicht in der Öffentlichkeit haben wollen.“ Übernehmen Sie die Definition?

Garton Ash: Nicht ganz im Ernst; denn es ist natürlich eine Provokation, aber Journalisten sollten nicht allzu staatstragend und staatstreu sein. Das ist sicherlich zu oft der Fall. Die Grundbasis des Journalismus ist ganz einfach: die Ehrlichkeit. Darum geht es gerade in der Welt des Internets, wo man alles machen kann — Fake News, gefälschte Bilder und so weiter — gerade dieses Ethos des Journalisten ist besonders wichtig. Den kann auch der sogenannte Bürger-Journalist haben.

Sie haben die große Bedeutung des Karlspreises hervorgehoben. Orientiert sich diese Bedeutung an den Vorgängern, an bekannten Namen oder sehen Sie den Karlspreis auch als willkommenes und wichtiges Forum, um wesentliche Akzente zu formulieren?

Garton Ash: Sowohl als auch. Zu der Liste mit den großen Namen kommt natürlich Aachen selbst als Inbegriff Europas und der europäischen Geschichte mit der unglaublichen Kontinuität, die man in Aachen sieht. Aber ich will ganz bewusst am 25. Mai bestimmte Akzente setzen für eine europäische Debatte in einem absolut politischen Moment.