Kultur Ulrich Wickert: „Sie können Ihrer Identität nicht entkommen“
Zum 75. Geburtstag von TV-Journalist Ulrich Wickert ist ein Buch mit Texten aus seiner Feder erschienen. Der Band überrascht mit unbekannten Stücken über Frankreich, Gott und die Welt.
Hamburg. Er war der furchtlose Reporter, der den Verkehr auf der Pariser Place de la Concorde wie Moses das Meer durchschritt, als Tagesthemen-Moderator machte er aus der Wetter-Ankündigung ein Ereignis. Zum morgigen 75. Geburtstag des Lieblings-Journalisten der Deutschen versammelt ein Buch die besten Reportagen, Gespräche und Prosatexte von Ulrich Wickert. Neben dem Wiederlesen seiner großen Politikgespräche überrascht auch der Band mit unbekannten Stücken aus 35 Jahren Journalismus über Frankreich, Gott und die Welt. Ein Gespräch mit Ulrich Wickert.
Herr Wickert, nur 448 Seiten aus 35 Jahren — wie schwer ist Ihnen die Auswahl gefallen?
Wickert: Die Zusammenstellung hat Daniel Kampa als Verleger übernommen, und es ist eigentlich auch ganz gut, wenn das jemand mit dem Blick von außen macht. Ich war aber fasziniert, als ich die Gespräche mit von Weizsäcker, Schmidt und Genscher erstmals hintereinander gelesen habe und den Eindruck hatte, als würden die drei durch meine Fragen miteinander sprechen. Da setzt sich ein historisches Bild zusammen, wie drei Politiker einer Generation über Weizsäckers Rede zum 8. Mai aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln sprechen.
Alle drei haben mit Ihnen sehr offen gesprochen. Sind solche Gespräche zwischen Politikern und Journalisten heute noch möglich?
Wickert: Ich glaube schon. Vor zwei Jahren habe ich mit dem französischen Kollegen Dominique Seux für unser Buch „Anders gemeinsam“ drei Tage lang mit Wolfgang Schäuble und dem französischen Finanzminister Michel Sapin gesprochen, verteilt über mehrere Monate. Aber das waren jeweils sieben Stunden am Tag inklusive Mittagessen. Sie müssen als Fragender bereit sein, sich auf diese Tiefe einzulassen. Dass ich mit Weizsäcker über Ernst Jünger und den Philosophen Max Scheler gesprochen habe, wäre heute vielleicht ungewöhnlich, aber ich glaube, dass man das noch machen kann.
Aus Ihren Fragen spricht eine unbändige Lust am Zuhörer. Hatten Sie nie die Befürchtung, dass Ihnen die Gespräche zu lang geraten?
Wickert: Die Verabredung mit dem Sender Phoenix, für den sie aufgezeichnet wurden, war, dass wir keinen Zeitrahmen festlegen. Das erste Interview mit Helmut Kohl dauerte drei Stunden. Gerhard Schröder fragte vorher, wie lang das Ganze gehen sollte. Als ich andeutete, anderthalb Stunden könnten es werden, sagte er: „Was? Nie im Leben! 45 Minuten! Länger als eine Halbzeit geht gar nicht!“ Dann haben wir gesprochen, und hinterher fragte er, wie lange es denn nun gewesen sei. Anderthalb Stunden. „Ach“, sagte er, „das hätte ich nicht gedacht.“ Das Wichtigste ist, dass man den Gesprächspartner zum Erzählen bringt. Es kommen ja unglaubliche Details dabei heraus. Deshalb sind diese Gespräche auch so dicht.
Gibt es einen Trick, wie Sie Ihre Gesprächspartner zum Erzählen locken?
Wickert: Der Fragende muss unglaublich viel wissen und sich dann zurücknehmen. Bei Kohl habe ich mich 14 Tage ausschließlich mit ihm beschäftigt, bei den anderen war es eine Woche. Eigentlich müssen Sie mehr über den Befragten wissen als er über sich selbst, dann können Sie ihn leichter durch das Gespräch führen. Als ich mit Weizsäcker über seinen Vater gesprochen habe, musste ich die ganze Situation natürlich kennen, damit er mir nicht entwischen konnte.
Viele Texte reflektieren Ihr eigenes Denken über Gesellschaft und Normen, immer wieder auch über deutsche Identität. Als ein Modell schlagen Sie vor, Verantwortung zu leben. Aktuell müssten Sie politisch enttäuscht sein, oder?
Wickert: Es ist fürchterlich, das so zu sagen, aber was wir gegenwärtig in Berlin erleben, ist schon fast politische Kleingeisterei. Die Fragen nach deutscher Identität habe ich größer gedacht. Gestoßen bin ich auf das Thema als Korrespondent in Frankreich. Ich habe dort die „L’Identité de la France“ (deutsch: Frankreich) von Fernand Braudel gelesen, meines Erachtens einer der wichtigen Historiker Frankreichs des letzten Jahrhunderts. Der schreibt drei Bände über die Identität Frankreichs, aus denen ich unglaublich viel gelernt habe, und da komme ich als Tagesthemen-Moderator nach Deutschland und der damalige Bundespräsident Roman Herzog hält eine Rede zum 3. Oktober, in der er wörtlich sagt: „Es gibt die unverwechselbare Identität eines jeden Einzelnen, aber es konnte mir noch niemals jemand erklären, was eine kollektive Identität ist.“ Der Bundespräsident sagt, etwas gibt es nicht, worüber der andere drei Bände schreibt! Und dann bin ich der Frage nachgegangen: Woher kommt dieser Widerspruch?
Und? Sind Sie fündig geworden?
Wickert: Der Widerspruch rührt daher, dass die Deutschen in ihrer Identität das Dritte Reich und die Gaskammern nicht haben wollen. Also sagt man: Identität gibt es gar nicht. Deshalb sagen manche heute lieber „ich bin Europäer“ und nicht „ich bin Deutscher“. In dem Moment, in dem dieser Europäer nach Belgien fährt, sagen die Belgier: „Du bist Deutscher“. Die Deutschen fliehen aus ihrer Identität. Und meine Überlegung war: Wenn ich ein Problem mit dem Inhalt meiner Identität habe, wie müssen wir uns dann entwickeln? Was ist die Richtung? Das letzte Kapitel in meinem Buch „Deutschland auf Bewährung“ geht in die Richtung: Wir haben Verantwortung für die humane Gesellschaft. Das geht natürlich weit über das hinaus, was die Parteien sich da gerade gegenseitig zuschieben. Das ist ja absurd, dass nun die FDP sagt, die SPD solle Verantwortung übernehmen. Ja, hat die FDP denn nicht kandidiert, um an die Macht zu kommen? Man kandidiert doch, weil man Inhalte umsetzen will, und nicht um zu sagen, der andere soll es jetzt machen.
Wäre es für jemanden wie Sie, der halb in Deutschland und halb in Frankreich lebt nicht komfortabler, sich in eine übergreifendere Identität zu flüchten, so wie Braudel sie in seinem Werk über die Kultur des Mittelmeers offeriert?
Wickert: Die Idee ist wunderbar, aber es geht nicht. Sie können ihrer Identität nicht entkommen. Sie wächst in der Familie, in die Sie hineingeboren sind und Bewusstsein entwickeln. Interessanterweise gibt es in Grass’ biografischem Buch „Vom Häuten der Zwiebel“ eine Szene, wo er als 17-Jähriger noch in den Krieg geschickt wird und mit großem Glück davonkommt, weil er nicht Radfahren kann. Jetzt ist er in der zweiten Nacht allein im Wald, und er hört jemanden kommen. Er weiß aber nicht, wer das ist. Aus lauter Angst fängt er an, „Hänschen klein“ zu singen. Und der andere antwortet „ging allein in die weite Welt hinein“, und da weiß er: es ist ein Deutscher.
Es ist ein Obergefreiter, der ihm rät, die SS-Uniform auszuziehen, wenn er überleben will.
Wickert: Er rettet Grass das Leben. Das Interessante an dieser Szene ist: Im Moment der Todesangst kommt aus der Identität das Kinderlied. Deshalb gelingt der Identitätswechsel nicht, ihnen wird immer fehlen, was kleine Franzosen, Italiener und Spanier lernen. Und das ist interessant: Unsere Märchen spielen fast alle im tiefen, natürlichen dunklen Wald. Das fängt bei „Hänsel und Gretel“ an und kommt dann wieder in der Romantik beim „Grünen Heinrich“ und beim „Taugenichts“. In Frankreich ist nicht der tiefe, sondern gezähmte Wald, in dem die Märchen spielen. Dahinter steckt ein ganz anderes Naturverständnis.
Das Buch enthält auch Teile der Journalistik-Vorlesungen, die Sie an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Unversität gehalten haben. Wie sollten Journalisten mit dem „Lügenpresse“-Geschrei umgehen?
Wickert: Das „Lügenpresse“-Geschrei nehme ich gar nicht so ernst. Der Begriff ist von Kommunisten erfunden und dann von den Faschisten übernommen worden. Was es natürlich gibt, sind Zeitungen, die über Königshäuser und Promis die größten Lügen verbreiten, doch die sind von dem Begriff gar nicht gemeint.
Der erste Satz einer Ihrer Vorlesungen lautet: „Von Beruf bin ich Handwerker.“ Müssen wir als Journalisten unser Handwerk besser erklären?
Wickert: Wir müssen mehr erklären, wir müssen aber auch Fehler zugeben. Und wir müssen weiter schauen als nur darauf, was die anderen auch berichten. Wir haben in der Flüchtlingsberichterstattung immer über gute Deutsche berichtet, aber nicht über die, die ihre Kinder plötzlich nicht mehr in die Turnhalle schicken konnten. Wir haben nicht über die berichtet, die plötzlich in einem Ort ganz viele Fremde hatten, mit denen sie nicht umgehen konnten. Das ist ja auch gar keine schlimme Situation, sondern bloß ungewohnt. Man darf ja Angst haben. Aber das hat die Presse nicht ausreichend berichtet. Das war ein Fehler.
Letzte Frage: Welcher Text fehlt im Buch?
Wickert: Ne ganze Menge wahrscheinlich, man vergisst ja auch. Mich rief vor wenigen Tagen Freimut Duve an, der bei Rowohlt ja lange für rororo-aktuell zuständig war, und erzählte, du, ich bin hier gerade noch mal Bücher durchgegangen, und 1976 hast du in einem Buch von Iring Fetscher über Freiheit einen sensationellen Text geschrieben. Da habe ich gesagt: Aha. Ich hatte null Erinnerung daran.