Meinung Die schlaflose Gesellschaft und die Konsequenzen
Nein, es ist nicht gesellschaftsfähig, gegenüber Arbeitgeber oder Kollegen zu sagen: Kann heute nicht kommen, bin zu müde. Zu Recht gibt es da kein Verständnis. Doch das Mal-Müde-Sein, etwa wegen einer angespannten Lebenssituation, ist auch gar nicht das Problem, das die aktuelle Studie zu Schlafproblemen aufzeigt.
Dass fast zehn Prozent der Menschen von besonders schwerer Schlafstörung betroffen sind, die mehr ist als eine bloße Phase, muss zu denken geben. Denn die Folgen, die das Nicht-Erholtsein haben kann, können nicht nur für den Einzelnen wegen Folgeerkrankungen fatal sein — von Herz-Kreislauferkrankungen über Depressionen bis zum früheren Tod.
Auch die Gesellschaft ist betroffen. Und das nicht nur wegen steigender Krankheitskosten. Wir kennen die Plakate, die an Autobahnen vor dem Handy-Telefonieren im Auto oder vor Alkohol am Steuer warnen. Dabei ist die Übermüdung auch für andere Verkehrsteilnehmer ein weiterer Gefährdungsfaktor, der angesichts der genannten Gefahren in den Hintergrund rückt.
Die „schlaflose Gesellschaft“ hat kollektive und individuelle Ursachen. Da ist eine Arbeitswelt, in der körperliche Arbeiten abnehmen, aber psychische Belastungen zunehmen. Da ist die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeit, vor allem aber die Digitalisierung und ihre Folgen: ständig erreichbar zu sein. Nach Dienstschluss, am Wochenende, im Urlaub. Die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmt immer weiter. Doch wer darüber redet, wer zugibt, dass ihm das psychisch und körperlich zusetzt, ist aus dem Spiel — so vielleicht der Gedanke. Dass höher Qualifizierte nach eigenen Angaben nicht so stark betroffen sind, kann daran liegen, dass sie eine sie persönlich erfüllende Aufgabe haben. Oder aber, dass sie noch weniger als die anderen Schwäche zeigen wollen.
Und so richtig offiziell kommt das Problem ja auch nicht an die Oberfläche. Dass ein Arzt die Diagnose „Schlafstörung“ als Hauptursache auf den gelben Schein schreibt, passiert nur selten. Und die Betroffenen doktern eher mit Schlafmitteln an sich herum statt das Problem ernst zu nehmen und zum Arzt zu gehen. Schlaflosigkeit, so paradox das klingen mag, sollte wachrütteln. Freilich auch die Betroffenen selbst, die durch einen veränderten Lebenswandel, durch das Achten auf sich selbst, durchaus auch durch Nein-Sagen etwas für sich tun können.