Meinung Es braucht mehr als 100 Tage
Vielfach wird nun gesagt, Andrea Nahles habe in ihren ersten 100 Tagen als Parteivorsitzende nichts bewirkt. Schließlich sei die SPD noch weiter abgesunken. Nun, wer je erwartet hatte, man könne den Zerfall der guten alten Sozialdemokratie mit einem Fingerschnips aufhalten, ist ein Träumer.
Übrigens hat auch die Union weiter verloren. Es sind hier wohl andere Prozesse im Gange.
Womöglich wird es bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern noch schlimmer kommen. Andrea Nahles müsste sich daran nicht messen lassen, wenn ihre Partei halbwegs die Ruhe bewahren könnte. Der Maßstab an sie muss ein anderer sein: Hat die neue Vorsitzende die Gründe für die Probleme der SPD erkannt? Ergreift sie Gegenmaßnahmen? Und: Kann sie am Ende die Figur sein, die mit Aussicht auf Erfolg aus der Misere führt? Die ersten beiden Fragen können mit Ja beantwortet werden. Nahles hat nicht nur das Wahldesaster schonungslos analysiert, sie hat auch Konsequenzen gezogen. Organisatorisch mit den begonnenen Reformen in der Parteiarbeit und im Willy-Brandt-Haus. Und politisch mit einer Politik, die relativ klug darauf reagiert, dass das Mitregieren in einer großen Koalition für den kleineren Partner immer ein Dilemma darstellt. Nahles’ Reifung zur Führungsfigur ist bemerkenswert. So war es richtig, auf Seehofers „Master“-Plan nicht mit Ultimaten zu reagieren, sondern CDU und CSU sich mit diesem Streit allein blamieren zu lassen. Und Nahles’ Wort vom „Realismus ohne Ressentiments“ in der Flüchtlingsdebatte ist das Beste, was in der SPD seit langem dazu gesagt wurde.
Persönlich wählbar ist Nahles für viele Menschen deshalb noch immer nicht. So schnell lässt sich das alte Image der Krawall-Politikerin („Bätschi“) eben nicht abstreifen. Um Kanzlerkandidatin mit Aussicht auf Erfolg zu werden, braucht die SPD-Vorsitzende viel mehr als 100 Tage. Die Frage wird im Herbst nach den Wahlen in Hessen und Bayern sein, ob die nervöse Partei ihr diese Zeit gibt.