Meinung Leitkultur — ein für den Wahlkampf gedachtes Wort

Wer nach Deutschland kommt, aber noch nicht so richtig weiß, wie wir hier ticken, hätte gestern gut daran getan, sich die „Bild am Sonntag“ zu kaufen. Da schrieb der Bundesinnenminister eine Art Verhaltenskodex auf.

Ein Kommentar von Peter Kurz.

Dass wir uns hier zur Begrüßung die Hand geben, zum Beispiel. Und dass wir unseren Namen sagen. Und dass bei uns der Leistungsgedanke gilt. Wer dies und einiges mehr beherzigt, so könnte die Botschaft verstanden werden, ist hier gut aufgehoben. Und da ist er dann auch wieder, der Begriff der Leitkultur, den Thomas de Maizières Parteifreund Friedrich Merz schon vor 17 Jahren propagierte. Und den der Innenminister im heraufziehenden Bundestagswahlkamp nicht allein der Schwesterpartei CSU, vor allem nicht der AfD überlassen will.

Eben diese Motivlage zeigt, dass de Maizières zehn Thesen gar nicht wirklich an die Zuwanderer addressiert sind, sondern an die deutschen Wähler. Doch sollte man all diejenigen nicht für dumm verkaufen, die sich in dem da gezeichneten Bild der Leitkultur gerade nicht wiederfinden. Die sagen: eine Leitkultur gibt es doch gar nicht, sondern ganz verschiedene Lebensweisen — man braucht doch nur aus Ostfriesland nach Bayern zu fahren, um das festzustellen. Leitkultur? Welche soll’s denn sein? Die der bayerischen Bierzelte oder die Welt der Opernfreunde? Die der Fußballschlachtenbummler oder der Schützen- und Karnevalsvereine? Pommesbude oder Vier-Sterne-Restaurant?

Leitkultur, der Begriff will sagen: Ihr müsst euch anpassen. Und: Wenn du anders bist als wir, wirst du ausgegrenzt. Dabei ist das, was da zum Maßstab genommen wird, nicht fassbar. Viel greifbarer ist es dagegen, die — für alle! — geltenden Werte unseres Grundgesetzes zum Maßstab zu nehmen. Ein Kollege dieser Zeitung hat dafür in einem früheren Beitrag ein paar Beispiele aufgeführt, als er schrieb, „dass gegen die Werte des Grundgesetzes gerade nicht nur von Ausländern verstoßen wird. Siehe das Verbot von Gewalt (Fußball-Hooligans) oder der Diskriminierung von Minderheiten (an vielen Stammtischen), siehe die gebotene Gleichberechtigung der Frauen (Lohngefälle) oder die Sozialbindung des Eigentums (Steuerflüchtlinge).“

Die ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens ändern sich ohnehin ständig. Wichtig sind die Leitplanken, die in den ersten Artikeln des Grundgesetzes festgeschriebenen Grundsätze. Diese grundgesetzliche Leitkultur gilt es einzufordern. Von allen.