Bürgerdialog Angela Merkel in Wuppertal: Eine Kanzlerin und 70 Bürger
Wuppertal · Beim Bürgerdialog in Wuppertal stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel knapp 90 Minuten den Fragen von 70 Bürgern. Thema: 70 Jahre Grundgesetz und was die Verfassung zu den drängenden Problemen der Gegenwart sagt.
Man merkt es ihr an, die Bundeskanzlerin mag das Format des Bürgerdialogs, die Fragerunde mit den ganz normalen Menschen. Am Montag kam Angela Merkel (CDU) dafür nach Wuppertal. Das Thema: 70 Jahre Grundgesetz (der Geburtstag ist am 23. Mai). Warum Wuppertal? Weil die bergische Stadt die erste westdeutsche Großstadt war, die eine Partnerschaft mit einer ostdeutschen Großstadt, nämlich Schwerin, geschlossen hatte.
Daher hatte das Bundeskanzleramt in Zusammenarbeit mit der Westdeutschen Zeitung und der Schweriner Volkszeitung 70 Bürgerinnen und Bürger (20 davon aus Schwerin) aus den beiden Städten eingeladen. In der Villa Media hatten sie Gelegenheit, knapp 90 Minuten ihre Fragen zum Thema loszuwerden.
In engem Rund, geradezu in Tuchfühlung mit der Kanzlerin, saßen die Fragesteller auf Hockern um die Kanzlerin und Moderator Lothar Leuschen (Chefredaktion WZplus) herum. Dabei zeigte die Breite der von ihnen angesprochenen Themen, dass irgendwie doch alles mit dem Grundgesetz zusammenhängt: von den Schülerdemos für Klimaschutz über antisemitische Plakate in Wuppertal, von Cybermobbing über fehlende Volksentscheide auf Bundesebene bis zu im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen.
Gewiss sei das Grundgesetz durch manch eine Änderung in den vergangenen Jahrzehnten sprachlich nicht schöner geworden, sagte Merkel. Doch, und das stellte sie gleich zu Beginn der Diskussion klar, sei das Grundgesetz für sie nach den Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung schon „sehr gut durchdacht“. Sie sehe es als ein Stück Rechtssicherheit. Wichtig sei jedoch, dass das Grundgesetz von den Menschen gelebt und von Generation zu Generation weitergegeben werde.
Dass die Verfassung und ihre Werte im täglichen Leben eine große Rolle spielen, das zeigten die Probleme, die die Fragesteller oft ganz konkret an einzelnen Artikeln des Grundgesetzes festmachten. So wie eine Wuppertalerin, die eindringlich darauf hinwies, dass der Artikel 1, der Schutz der Menschenwürde, doch wohl keine nationalen Grenzen kennen dürfe. Und wie es damit vereinbar sei, dass im Mittelmeer täglich Menschen ertrinken. Menschen, die auch durch die Folgen des von Deutschland mitverantworteten Klimawandels ihre Heimat verlassen. Und dass ausgerechnet denjenigen privaten Rettungsorganisationen, die sich für die Flüchtlinge engagieren, auch noch Repressionen drohen.
In ihrer Antwort darauf wechselte Merkel die Perspektive. Natürlich müssten vom Ertrinken bedrohte Menschen gerettet werden. Allerdings dürfe die Politik auch nicht so verfahren, dass sie das Signal gebe, Flüchtlinge müssten es nur bis ins Mittelmeer schaffen. Denn das hieße ja, dass man das Modell akzeptiert: Wer jung und kräftig ist und das Geld hat, die Schleuser zu bezahlen, der setzt sich durch. So dürfe Flüchtlingspolitik nicht sein.
Wie bei vielen Antworten auf kritische Fragen verstand es die Kanzlerin, den manchmal in Frageform gekleideten Vorwürfen zunächst weit entgegenzukommen, dann aber doch auch wieder zu erklären, warum die Lösung nicht so einfach sei, wie sich manch einer das denke. Wie etwa bei dem Thema „Fridays for Future“ und den Demonstrationen junger Menschen für den Klimaschutz. „Die jungen Menschen machen uns Druck, ich finde das richtig“, sagte die Kanzlerin. Und: „Es bricht einem fast das Herz, wie Raubbau an der Natur getrieben wird“, das Thema sei sehr wichtig, das sei auch ihr als ehemaliger Umweltministerin klar. Doch müsse eben auch bedacht werden, dass es mit vielen gesellschaftlichen Kontroversen verbunden sei, etwa mit Blick auf Arbeitsplätze in Kohleregionen.
Ein junger Mann wollte von ihr wissen, was sie denn ganz persönlich für den Klimaschutz tue, worauf ihr spontan erst einmal einfiel, dass sie ihr Haus wärmegedämmt habe. Überhaupt sei die Wärmedämmung ein „schlafender Riese“, wenn es um das Einsparen von Energie gehe. Das müsse steuerlich gefördert werden, sagte die Kanzlerin. Aber auch in anderen Bereichen sei noch viel zu tun. Bei den Stromleitungen von Nord nach Süd zum Transport des Windstroms, den Veränderungen in der Mobilität hin zum E-Auto. Fleisch sei doch viel zu billig, gab eine junge Fragestellerin zu bedenken, nachdem Merkel auch über den hohen Methanausstoß von Kühen gesprochen hatte. Das fand Merkel wohl auch, fügte aber hinzu, dass die Regierung nun mal keine Preise festsetze.
Das Thema Schülerstreiks brachte auch noch mal ein Schulleiter aus Solingen auf, der sich ganz offen dazu bekannte, dass er sich nicht an die Vorgaben des NRW-Schulministeriums halte und in engen Absprachen mit den Schülern versuche, die Teilnahme an den Freitagsdemonstrationen zu ermöglichen. Eine Haltung, die der Kanzlerin offenbar ganz sympathisch war. Sie finde ohnehin, dass die meisten Schulen sehr geschickt mit dem Thema umgingen. Durch Gespräche lasse sich vieles regeln, was man mit pauschalen Regelungen nicht schaffe.
Warum sich die Bundesrepublik eigentlich keine neue Verfassung gebe, wollte ein Schweriner wissen. Sie könne ganz gut mit der jetzigen Verfassung leben, konterte die Kanzlerin, es gebe auch in der Bevölkerung eine hohe Zufriedenheit mit dem Grundgesetz. Aber nicht in allen Punkten, wie ein Wuppertaler Gesamtschullehrer im Namen seiner Schüler zu bedenken gab. Diese hätten ihm aufgetragen zu fragen, warum es eigentlich auf Bundesebene keine Volksentscheide gebe. Die direkte Demokratie könne doch die Identifikation der Menschen mit der Politik stärken. Merkel sieht das anders. Gerade bei der Entscheidung über komplexe Sachverhalte funktioniere das nicht. Die repräsentative Demokratie, bei denen der Wähler seinen Vertretern für vier Jahre das Vertrauen gebe und dann auch wieder entziehen könne, sei da der bessere Weg.
So ging es lange hin und her, mit vielen Missständen wurde die Kanzlerin konfrontiert. Dass es zu wenig Pflegekräfte gebe oder auch dass die Meinungsfreiheit überstrapaziert werden, wenn antisemitische Plakate in Wuppertal aufgehängt würden. Auf alles fand die Kanzlerin mehr oder weniger abwägende Antworten und outete sich dabei auch als Fan des Bundesverfassungsgerichts, das ja für die Auslegung des Grundgesetzes zuständig ist. Sie lese gern die Urteile der höchsten Richter mit ihren Abwägungen in die eine und auch die andere Richtung. Eben das merkt man auch ihren Antworten an, in denen sie sich selten auf etwas festlegt.
Ein bisschen was sagte die Kanzlerin auch zu sich selbst. Als ein Fragesteller sie bat, nach ihrer Amtszeit doch noch mal ein politisches Amt zu übernehmen, zum Beispiel als UN-Generalsekretärin. Da winkte sie ab, sagte aber auch mit Blick auf ihre aktuelle Funktion einen angesichts der aktuellen Diskussion in der CDU interessanten Satz: „Ich bin bereit, das bis zum Ende der Legislaturperiode zu machen.“ Vorher hatte sie - was wohl ein Versprecher war - in einem Nebensatz gesagt, dass sie noch bis zum Jahresende im Amt sein werde.