Ernst Kunst: Ein Künstler mit dem Blick für das Wesentliche
Im öffentlichen Bewusstsein spielt Ernst Kunst kaum noch eine Rolle. Dabei fasziniert seine wechselvolle Biografie bis heute.
Burscheid/Madrid. Die Gräber von Paul Luchtenberg und Ernst Kunst auf dem Burscheider Friedhof trennen nur hundert Schritte und eine Abzweigung. Doch während die imposante Anlage der Familien Luchtenberg und Richartz-Bertrams schon äußerlich die feste Verankerung der Verstorbenen im Geschichtsbewusstsein der Stadt repräsentiert, ist das Grab des Bildhauers und Malers Ernst Kunst schnell zu übersehen. Nur seine Signatur ziert den schlichten Stein des Doppelgrabes. Doch ohne Paul Luchtenberg wäre der in Remscheid geborene Künstler wohl kaum in Burscheid beerdigt worden.
Niemand sucht sich seinen Namen aus. Aber es ist schon eine sonderbare Fügung, dass ein Künstler, den sein Mäzen Paul Luchtenberg in dem Versuch einer Werkdeutung als einen von inneren Kämpfen und Verzweiflungsattacken geplagten Menschen schildert, ausgerechnet Ernst Kunst heißt.
Den Ernst des Lebens lernt Kunst jedenfalls schon früh kennen. Er wird 1896 als uneheliches Kind geboren. Sein Vater, Sohn eines Fürsten von Sayn-Wittgenstein-Berleburg, bleibt ihm fremd. Seine Großmutter adoptiert ihn; er wächst mit vermeintlich acht Geschwistern auf, die in Wahrheit seine Onkel, Tanten und seine Mutter sind. Zu ihr entwickelt er unwissend ein besonders enges Verhältnis. Sie stirbt, als Ernst Kunst gerade sechs Jahre alt ist.
Auch Ernst Kunsts zweiter Sohn Michael ist erst sechs Jahre alt, als sein Vater 1959 in Burscheid an den Folgen eines Herzleidens stirbt. Doch im Laufe seines Lebens hat er sich ein großes Wissen über seinen Vater angeeignet. Und das Haus des Archäologen in Torrelodones vor den Toren Madrids legt vom Keller bis unter das Dach Zeugnis ab von der Kreativität des Vaters und der ebenfalls malenden Mutter Hildegard.
Die beiden waren sich auf einem Ball der Berliner Kunstakademie erstmals begegnet. 1943, nachdem sich Kunst von seiner ersten Frau hatte scheiden lassen, heiraten sie in der Hauptstadt unter abenteuerlichen Umständen. Der Ahnenpass der 15 Jahre jüngeren Hildegard kann keinen einwandfreien Ariernachweis erbringen; nur ein freundlicher Standesbeamter macht die Hochzeit möglich. Die Ringe werden am Kaugummiautomaten gezogen.
Kunst, der wegen seiner mangelnden Fremdsprachenkenntnisse darauf verzichtet hat auszuwandern, verbringt die NS-Zeit als freischaffender Bildhauer in Berlin. Obwohl Nazigegner und zu Beginn des Naziregimes noch Mitglied der Kommunistischen Partei, wird sein Werk nicht als „entartet“ diffamiert. Bei der Großen Deutschen Kunstausstellung in München kauft SS-Führer Heinrich Himmler 1943 sogar eine Kunst-Statue — mit dramatischen Folgen.
„Mein Vater hatte in seinem Berliner Atelier eine Halbjüdin aus der Verwandtschaft versteckt und eines Tages stand Himmler unangemeldet vor der Tür“, erzählt Michael Kunst. Die Frau muss sich in Sekundenschnelle hinter einem Vorhang verstecken, vor dem Himmler wenig später zum Greifen nahe entlangschreitet. Sie bleibt unentdeckt.
1944 bewahrt Hildegard Kunst ihren Mann vor einem längeren Einsatz im Volkssturm. Als er in der zweiten Jahreshälfte einberufen wird, schreibt sie ohne sein Wissen einen Brief an Hitler und wird in die Reichskanzlei vorgeladen. Eine Woche später darf Ernst Kunst wieder nach Berlin zurückkehren, ohne je zu erfahren warum.
Hildegard Kunst gelangt zum Kriegsende in den Westen; in den Nachkriegswirren hat das Ehepaar zwei Jahre keinen Kontakt. Die Kunstakademie in Berlin gerät unter russischen Einfluss. Ernst Kunst wird, da selbst kein Nazi, mit Entnazifizierungsverfahren beauftragt und erhält auch erste Aufträge der Russen. So ist er in der Anfangsphase leitend an den Planungen für das Treptower Ehrenmal beteiligt. Später übernimmt er auch Arbeiten für die Amerikaner.
Michael Kunst über seinen Vater
Doch die Hoffnung, eine Professur an der Berliner Akademie zu erhalten, scheitert an Intrigen. Ernst Kunst wechselt in den Westen, kann mit seiner Frau zunächst in einem leer stehenden ehemaligen Schweinestall in Hinnenkamp bei Oldenburg unterkommen, wo 1953 auch Sohn Michael geboren wird, und zieht 1956 dann endgültig nach Burscheid.
Verbindungen zu Paul Luchtenberg hatten schon seit 1925 bestanden, als sich die beiden erstmals in Darmstadt begegneten. Luchtenberg lockt ihn nach Kriegsende auch zurück in seine bergische Heimat, nur wenige Kilometer von seiner Geburtsstadt Remscheid entfernt. Doch das Verhältnis zu dem FDP-Bundestagsabgeordneten und NRW-Kultusminister von 1956 bis 1958 bleibt bei aller Dankbarkeit nach Schilderung des Sohnes ambivalent: „Onkel Paul hat ihm sicherlich viele Aufträge verschafft, aber konnte auch sehr fordernd sein.“ Der künstlerischen Freiheit war das nicht immer zuträglich.
1957 erhält Kunst zwar einen Lehrauftrag an der Düsseldorfer Kunstakademie, aber dieser ist eher handwerklich als künstlerisch begründet: Er führt seine Schüler in die Techniken des Bildhauens ein. Trotzdem sind Sohn Michael aus dieser Zeit keineswegs trübsinnige Erinnerungen haften geblieben: „Mein Vater war auch ein begnadeter Schauspieler. Ich erinnere mich, dass er einmal einen Bettler so überzeugend gespielt hat, dass meine Mutter ihn nicht erkannt hat.“
Gemeinsame tägliche Wege zum Zeitungskiosk; Stippvisiten in der Gaststätte von Emilie Lauterbach, mit deren Bruder Carl sein Vater gut befreundet war; Ausflüge zum Wuppertaler Zoo — das sind die Bilder, die Michael Kunst von seinem Vater im Kopf hat. „Wenn er abgespannt aus Düsseldorf nach Hause kam, legte er sich erst mal auf die Couch und ich legte mich dazu. Dann hat er Kunstbücher hervorgeholt und ich konnte sofort sagen: Das ist von Toulouse-Lautrec. Vater war immer sehr stolz, wenn ich die Künstler erkannte.“ Nur die Besuche auf dem Burscheider Fußballplatz an der Seite des Vaters „waren für mich wahnsinnig langweilig“.
In die künstlerischen Fußstapfen seiner Eltern ist Michael Kunst trotz frühester Porträtzeichnungen nie getreten. „So begabt wie sie bin ich nun mal nicht.“ Statt Kunst oder Kunstgeschichte studierte er Archäologie und spezialisierte sich auf die Vor- und Frühgeschichte. Seit 1994 ist er über die Madrider Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts immer wieder mit den Ausgrabungen im portugiesischen Zabujal befasst, einer Siedlung aus der Kupferzeit.
Für die Pflege des väterlichen Nachlasses bleibt da kaum Zeit. „Aber wenn ich pensioniert bin, will ich mich verstärkt darum bemühen“, sagt der 60-Jährige. Die Phase der abstrakten Kunst sei in der Auflösung begriffen. „Ich sehe eine Chance, dass man die realistischen Arbeiten meines Vaters wieder in Erinnerung rufen kann.“ Seine Mutter hat ein Werkverzeichnis erstellt und ein ganzes Buch über ihren Mann geschrieben. „Das würde ich gerne publizieren.“
Aber erst einmal will er der Mutter auf dem Friedhof zu ihrem Recht verhelfen, wenn es die Zeit zulässt. Seit 2003 liegt sie an der Seite ihres Mannes. Aber wer vor dem Grab steht, erfährt davon bisher nichts.