Europa liegt vor der Haustür
Spaziergang: Politiker Herbert Reul führt durch Burscheid und erklärt, wo der EU-Einfluss sichtbar wird.
Burscheid. Spurensuche mit einem Europaabgeordneten: Herbert Reul erscheint zum Stadtspaziergang mit einem dicken Stapel Papiere unter dem Arm. "Wo fangen wir an?", fragt er. "Reisebüro, Apotheke, Handyladen?" Europa liegt direkt vor der Haustür, aber wo genau?
"Hier zum Beispiel", sagt Reul und bleibt vor den bunten Auslagen des Spielwarenladens stehen. Die Spielzeugrichtlinie sei auf Vorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates zustande gekommen: Schädliche Chemikalien und Duftsstoffe, die Allergien auslösen, haben in Fußball, Puppe oder Plüschtier künftig nichts mehr zu suchen.
Das gilt auch für Spielzeug, das aus China eingeführt wird, immerhin 80 Prozent der Waren kommen von außerhalb der EU. Die Konsequenzen für die Hersteller formuliert Reul mit einfachen Worten: "Halten sie sich nicht an die Vorgaben, heißt es: zurück, marsch, marsch."
Die Spielzeugrichtlinie hält Reul für sinnvoll. Was längst nicht für alle Entscheidungen der EU gilt. Wahnsinn, dieses Wort benutzt der Politiker während des Spaziergangs häufig. "Überraschungseier zu verbieten, halte ich für übertrieben. Solche Perfektionisten können mich in den Wahnsinn treiben."
In der Apotheke zieht Inhaber Thomas Winterfeld für den Politiker den Beipackzettel aus einer Packung Medikamente: Ende 2008 brachte die Europäische Kommission das sogenannte Arzneimittelpaket auf den Weg. Seitdem haben Patienten europaweit das Recht, von Herstellern über das Medikament informiert zu werden, das diese auf den Markt bringen. Auch wenn sie keinen Zugang zum Internet haben - also unter Umständen auch per Post.
Überhaupt die Gesundheit. Reul und Winterfeld können sich schwer voneinander lösen, diskutieren über Arzneimittelwerbung und Organtransplantation - alles Themen, die auch die Europäische Union verhandelt. "Das sind keine einfachen Themen", sagt Reul, der selbst immer wieder einen Blick auf seine Papiere werfen muss. Europäische Entscheidungen sind kniffelig und dauern oft Jahre.
Reul verabschiedet sich von Apotheker Winterfeld. Er kommt nur bis zum Reisebüro wenige Meter weiter. "Reisende können Verspätungen einklagen, das waren wir", sagt der Politiker nicht ohne Stolz. Seit November 2008 müssen Fluggesellschaften Ticketpreise einschließlich aller Zusatzkosten angeben - ebenfalls eine Richtlinie der Europäischen Union.
Vom Flugverkehr hat Reul es nicht weit zum Führerschein. Die Tage des grauen Lappens sind gezählt. Künftig werden Fahrer, die in eine Polizeikontrolle geraten, sich europaweit mit derselben Karte ausweisen müssen. Eine Entscheidung, die manchem Senior das Herz schwer werden lässt. "Der alte Führerschein ist fast schon ein Kulturgut", sagt Reul. "Manche Leute haben die Tränen in den Augen stehen, wenn ich erzähle, dass es den alten Führerschein bald nicht mehr geben wird."
Die Diskussion um Ampelkennzeichnung auf Lebensmitteln und Nährwertprofile - sie ist eine europäische. Ebenso die um die Gurke, die nun wieder krumm in die Einkaufstasche wandern darf.
"Das kulturelle Gut soll nicht verlorengehen", sagt Reul, als er an der Stadtbücherei vorbeischlendert. Das sei der Hintergrund, warum die Europäische Union sich entschieden habe, eine digitale Bibliothek zu schaffen, die Europeana.
Ähnlich wie die Internetnutzer Wikipedia, füttern die Staaten die Datenbank mit Büchern, Fotografien oder Abbildungen von Kulturschätzen. Im Laufe des Jahres sollen zehn Millionen Werke über die Internetseite abrufbar sein. Noch allerdings stammten die meisten Eingaben von den Franzosen, sagt Reul und grinst: "Die Nutzer können Goethe bisher leider nur auf Französisch lesen."
Reul könnte noch viel erzählen, über Handytarife oder Gebäudesanierung, über Bankenaufsicht oder europäische Bildungsprogramme. Aber er muss weiter. Europäische Entscheidungen treffen sich nicht von alleine.