Flüchtlinge „Irgendwann werden sie nicht mehr auf uns hören“
Sami und Vian Salem befürchten, dass ihre Verwandten in Idomeni bald versuchen, illegal nach Deutschland zu reisen.
Burscheid. Am Sonntag ist die Situation in Idomeni eskaliert. Hunderte Flüchtlinge haben nahe dem nordgriechischen Dorf vergeblich versucht, den mazedonischen Grenzzaun zu stürmen. Die mazedonische Polizei setzte Tränengas ein, es gab zahlreiche Verletzte. Sami Salem bewegen die Berichte ganz persönlich: Sein jüngerer Bruder Masud (23) lebt seit Wochen in dem Flüchtlingscamp und hofft, eines Tages doch von dort weiterreisen zu können — nach Deutschland.
Masud ist nicht der einzige Angehörige von Sami Salem und seiner Ehefrau Vian, der sich derzeit in Griechenland aufhält: Samis Mutter und ihr Enkel Senar, ein Onkel und seine Frau, Vians Oma — sie alle haben den Norden Iraks inzwischen verlassen. Als jesidische Kurden sehen sie für sich keine Zukunft mehr in ihrer Heimat und fürchten um Leib und Leben.
Ein Onkel von Vian Salem ist inzwischen aus Jülich nach Idomeni gereist, um seine kranke Mutter und die anderen älteren Frauen nach Athen zu holen. Dort werden sie ärztlich behandelt, dort können sie sich etwas erholen. Aber bald, das haben sie am Telefon erzählt, wollen sie wieder zurück an die mazedonische Grenze.
Beim offenbar von Aktivisten organisierten Marsch auf den Grenzzaun seien ihre Angehörigen wie auch bei früheren Auseinandersetzungen nicht beteiligt gewesen, sagt Vian Salem. „Sie halten sich dann immer im hinteren Bereich des Lagers auf.“ Aber die Eheleute aus Burscheid treibt mittlerweile eine ganz andere Sorge um: „Wir sagen ihnen immer, dass sie besser nach Hause zurückkehren sollen, als zu versuchen, auf illegalem Weg nach Deutschland zu kommen. Aber irgendwann werden sie nicht mehr auf uns hören.“
„Mein Bruder fragt mich immer am Telefon: Macht ihr was für uns? Aber was soll ich machen?“, sagt Sami Salem. Er und seine Frau verfolgen die Berichterstattung von der Grenze über die Medien, aber im Lager selbst herrscht nach allem, was man hört, eine kaum zu beeinflussende Mischung aus Gerüchten, die schnell die Runde machen, ohne dass man ihre Quelle erkennen könnte. Schleuser haben die Familienangehörigen schon von der Türkei über das Mittelmeer nach Griechenland gebracht. Schleusern könnten sie sich auch wieder anvertrauen, um nach Deutschland zu kommen, wenn die Verzweiflung und Ungeduld zu groß werden.
Vian und Sami Salem leben schon seit 16 Jahren in Deutschland. Ihre drei Kinder sind hier geboren, seit 2012 ist die ganze Familie eingebürgert. Sie haben mit der alten Heimat abgeschlossen. Aber die Familie ist zerrissen. Allein Sami hat neun Brüder und drei Schwestern. Der Vater ist aus Sorge bei den restlichen drei Brüdern im Nordirak geblieben, die kranke Mutter hat sich auf den Weg nach Europa gemacht. „Wir waren keine armen Leute“, sagt Sami Salem. „Aber seit es den Islamischen Staat gibt, ist alles auf null.“
Für seine Frau Vian ist klar, „dass Deutschland nicht die ganze Welt zu sich holen kann“. Aber sie weiß auch, dass die verfolgte Minderheit der Jesiden jedes Vertrauen auf eine Zukunft in der Region verloren hat.
In Burscheid, wo sie eine neue Heimat gefunden haben, versuchen sie, mit der Zerrissenheit zu leben. Der Alltag lenkt ab. Sami ist Taxifahrer in Leverkusen, Vian hat eine neue Stelle im Altenzentrum angetreten. Zu viele Internetbilder aus der Kriegsregion meiden sie, „denn Bilder machen krank“.
Aber abends, wenn Ruhe einkehrt, kehren die Sorgen zurück. „Dann schläft man am besten schnell ein“ — aber das gelingt nur selten. Am Ende dreht sich meist doch alles um die Verwandten in Griechenland und ihre ungewisse Zukunft.