Wolfgang Kaes: „Das wirkliche Leben ist oft viel bizarrer als ein Krimi“
Wolfgang Kaes im WZ-Interview über den Fall Trudel Ulmen, seine Fähigkeit zur Empörung und Kriminalität als Lebensthema.
Herr Kaes, eine Frau wird 16 Jahre lang vermisst. Dass sie von ihrem Ehemann ermordet wurde, wird erst durch die hartnäckigen Recherchen eines Journalisten aufgedeckt. Wäre das eine denkbare Krimihandlung?
Wolfgang Kaes: Grundsätzlich ja. Aber was ich im Lauf der fünfmonatigen Recherche erlebt habe, hätte ich mir in meiner Fantasie nicht auszudenken gewagt. Das wirkliche Leben ist oft viel bizarrer als ein Kriminalroman. Jetzt muss ich zu dem Fall Trudel Ulmen erst einmal wieder emotionale Distanz herstellen. Andererseits gibt es dazu noch ganz viel Spannendes zu erzählen, was ich als Journalist aus presserechtlichen Gründen nicht veröffentlichen konnte. Die Familie des Opfers würde sich jedenfalls wünschen, dass ich dazu noch einen Krimi schreibe. Also wird es im nächsten Roman um eine fiktive Kleinstadt gehen und vieles ist anonymisiert. Aber die Struktur wird real sein.
Wie sehr befruchtet der Journalist Wolfgang Kaes den Autor?
Kaes: Sehr. Ich habe gar nicht so viel Fantasie, wie die meisten vermuten. Ich muss mich immer ganz dicht an der Wirklichkeit entlanghangeln.
Gibt es auch den umgekehrten Weg, dass die Emotionalität des Autors die Distanz des Journalisten ins Wanken bringt?
Kaes: Jedenfalls hat mich bei dem realen Fall das Problem sehr beschäftigt, die journalistische Distanz zu wahren, auch wegen der wachsenden Nähe zur Opferfamilie. Da hat es ja zahllose Anrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit gegeben. Zuletzt war das auch der Grund, dass die Kripobeamten mich Mitte April 2012 baten, sie zu begleiten, um die Todesnachricht zu überbringen.
Ihre Romane behandeln immer sehr politische Themen wie den Bluterskandal oder den Kinderhandel. Wie sehr können Sie sich noch über Ungerechtigkeit empören?
Kaes: Ich werde nie aufhören, mich zu empören. Mit Ungerechtigkeit kann ich mich einfach nicht abfinden. Das Buch „Empört euch!“ des gerade verstorbenen Résistance-Kämpfers und KZ-Überlebenden Stéphane Hessel spricht mir so sehr aus der Seele. Und als er das veröffentlicht hat, war er schon 93.
Ihr aktueller Roman „Das Gesetz der Gier“ dreht sich um die Folgen der Billigproduktion in der Modebranche. Als es erschien, gab es die mittlerweile weit über tausend Toten von Bangladesch noch nicht. In dem Buch stirbt zu Beginn ein junger türkischer Arbeiter. Die letzte Jeans, die er gesandstrahlt hatte, wird von einer Architektengattin für 379 Euro auf der Kö gekauft. Können wir uns überhaupt gerecht kleiden?
Kaes: Das ist ganz schwierig. Bei Lebensmitteln funktioniert das mittlerweile recht gut, aber bei Textilien ist das anders. Wenn ein Discounter eine Jeans für 9,90 Euro anbietet, dann können Sie ziemlich sicher sein, dass dahinter ein Verbrechen steht. Aber auch bei einem Designeranzug für 600 Euro können Sie das nicht ausschließen. Es wird ja immer gesagt, dass die Welt durch die Globalisierung zum Dorf zusammenrückt. Ich beobachte in der Arbeitswelt das Gegenteil: Die Dinge fallen immer weiter auseinander. Hier lebt der Verbraucher und tausende Kilometer entfernt die Hersteller. Wäre das Unglück von Bangladesch vor der Haustür passiert, wären alle entsetzt gewesen. Durch die Distanz sehen wir die Folgen aber nicht mehr.
Mit Ihrem Verlagswechsel von Rowohlt zu Bertelsmann war ein Abschied von Ihren Figuren Jo Morian, Max Maifeld und Antonia Dix verbunden. Jetzt taucht Dix wieder auf. War der Trennungsschmerz zu groß?
Kaes: Ja, ich wollte sie wiederhaben. Es gibt diese Idee, dass bei einem Verlagswechsel auch das Romanpersonal wechseln muss. Aber Antonia Dix ist mir so ans Herz gewachsen. Im neuen Buch, das im Herbst 2014 wieder als Taschenbuch bei Rowohlt-Polaris erscheinen wird, gibt es aber zwangsläufig ganz andere Figuren.
Ihr Großvater wurde ermordet, ein Onkel war Kripochef, ein Cousin verdeckter Ermittler. Ist Kriminalität Ihr Lebensthema?
Kaes: Ich glaube ja. Der Mord an meinem Großvater geschah in den ersten Jahren des Naziregimes. Aber unter der neuen arischen Herrenrasse durfte es ja keine Verbrechen geben. Die Mörder wurden nie ermittelt. Stattdessen wurde die Opferfamilie stigmatisiert. Meine Oma hatte keinen Beruf erlernt und stand mit zwei kleinen Jungs ganz allein da. Die Familie musste schließlich umziehen. Bei mir selbst war es bis kurz vor dem Abi noch nicht klar, ob ich zur Kripo gehen oder Journalist werden wollte. Die Frage, wie das Böse in die Welt kommt, hat mich immer beschäftigt. Ich habe mal eine Studie gelesen, nach der reichen 15 Prozent böse Menschen, um alle anderen zu beeinflussen. Kriminalität erzählt ganz viel über eine Gesellschaft. Das ist wie ein Spiegel.
Sie haben bei einer Ehrung gesagt, den Fall Trudel Ulmen hätten Sie nur recherchieren können, weil Sie für eine Lokalzeitung arbeiten. Warum?
Kaes: Ich konnte bei den Recherchen ganz oft sagen, ich komme von Ihrer Zeitung. Viele Informanten sind zugleich Abonnenten und vertrauen der Zeitung. Dieses Vertrauen ist gewachsen, kann aber natürlich auch missbraucht und dann schnell vorbei sein. Aber die Nähe und die vielen lokalen Bezüge waren hilfreich, wie auch die Tatsache, dass ich selbst in Mayen geboren bin. In diesem kleinstädtischen Milieu hat das oft als Türöffner funktioniert.
Was macht guten Lokaljournalismus heute aus?
Kaes: Gute Lokaljournalisten nehmen sich selbst nicht so wichtig und lieben die Menschen in ihrer Umgebung. Und sie glauben felsenfest daran, dass ihre Arbeit die Welt ein bisschen besser machen kann.