Herr Tönnies, durch den Corona-Ausbruch in Ihrem Unternehmen sind Sie zum Buhmann der Nation geworden. Wie gehen Sie damit um? Welcher Schuld sind Sie sich bewusst?
Nach Corona-Ausbruch Clemens Tönnies im Interview: „Ich habe diese Pandemie nicht erfunden“
Rheda-Wiedenbrück · Fleischfabrikant Clemens Tönnies spricht im Interview über Verantwortung, Ursachen und Konsequenzen aus der Corona-Krise.
Rund vier Wochen lang hat die Arbeit in Deutschlands größtem Schlachthof nach dem massiven Corona-Ausbruch mit mehr als 1400 infizierten Mitarbeitern geruht. Jetzt wird bei Tönnies wieder geschlachtet und zerlegt. Firmenchef Clemens Tönnies und sein Unternehmen stehen im Zentrum der Kritik – wegen der Corona-Fälle, aber auch wegen der Lebens- und Arbeitsbedingungen tausender Werkvertragsarbeiter aus Osteuropa, die für den Fleischkonzern tätig sind. Im Interview spricht Tönnies über Verantwortung, Ursachen und Konsequenzen der Krise.
Clemens Tönnies: Wir wissen bis heute nicht, welchen Rechtsbruch wir begangen haben sollen. All die Kritiker haben bis dato nicht eine einzige konkrete Aussage dazu getroffen. Natürlich leide ich emotional, weil der Kreis Gütersloh meine Heimat ist. Und natürlich leide ich mit den Menschen, die einen Lockdown über sich ergehen lassen mussten. Wir müssen jetzt aber nach vorne schauen. Wir müssen die Produktion wieder ans Laufen bringen – und zwar so, dass wir die möglichen Risiken weiter reduzieren. Auf Null lässt sich das nicht bringen, das Virus lässt sich nicht einfangen. Doch wir bauen Barrieren auf, so wie wir es seit Februar gemacht haben. Diesen Weg haben wir jetzt weiter verstärkt, und die wissenschaftliche Expertise eins zu eins umgesetzt.
Es ist viel Kritik auf Sie eingeprasselt. In welchen Punkten können Sie diese nachvollziehen – in welchen sehen Sie sich zu Unrecht an den Pranger gestellt?
Tönnies: Wir sind sehr ernsthaft an das Thema Corona herangegangen, haben früh angefangen, Schutzhürden aufzubauen. Deswegen standen wir ja in der vom Ministerium durchgeführten Testung Mitte Mai sehr gut da, kamen mit acht Infizierten bei 6400 getesteten Personen auf eine gute Quote. Da gab es bei anderen Betrieben längst massive Probleme. Das hat uns aber nicht dazu bewogen, die Hände in den Schoß zu legen. Wir haben weitergemacht und unser eigenes Testcenter in Zusammenarbeit mit einem akkreditierten Labor auf die Beine gestellt. Dort haben wir alle Mitarbeiter getestet, die längere Zeit nicht im Betrieb waren oder aus dem Urlaub gekommen sind. Letztlich war es dann ja auch Mitte Juni unsere eigene Testreihe, die ersichtlich gemacht hat, dass wir Auffälligkeiten haben.
An welcher Stelle ist in Ihrem Unternehmen etwas falsch gelaufen? Warum haben die Schutzmaßnahmen den Corona-Ausbruch nicht verhindert, so dass es letztlich zur behördlichen Schließung gekommen ist?
Tönnies: Wir haben bis heute keine schriftliche Schließungsverfügung. Das finde ich nach über vier Wochen schon sehr verwunderlich, schließlich braucht diese behördliche Anordnung eine ordentliche Begründung. Wir haben das mehrfach vergeblich angefordert und trotzdem zeitgleich eng mit den Behörden und Wissenschaftlern gearbeitet. Inzwischen steht durch die Arbeit der Wissenschaftler fest, dass der Ausbruch erstens mit einem Phänomen zu tun hatte, das bis dato keiner kannte – und zweitens nichts mit Werkvertragsarbeit oder den Wohnverhältnissen zu tun hat. Wir sind durch einen Eintrag von Viren in der Phase der Lockerungen betroffen gewesen. Da ist es zu einem Kontakt von Infizierten mit Mitarbeitern gekommen. Das kann man nie ganz verhindern. Das ging anderen auch so. Professor Exner hat jetzt ermittelt, dass die Umluftkühlung, die eigentlich jeder Fleischbetrieb hat, ursächlich für die plötzliche und massive Ausbreitung ist. Er hat auch klar gesagt, dass das kein Tönnies-Problem ist. Sondern ein neues Phänomen, das zuvor nicht bekannt war. Ein Problem der Branche – und zwar weltweit.
Bei Arbeitsschutzkontrollen sind Mitte Mai aber zu geringe Abstände zwischen Mitarbeitern in der Produktion, zwischen Nutzern der Kantine sowie das nicht korrekte Tragen von Mund-Nasen-Schutz beanstandet worden. Wie konnte es zu diesen Verstößen kommen?
Tönnies: Wir sind intensiv kontrolliert worden. Uns ist bescheinigt worden, dass unser Konzept in vollem Einklang mit den Vorgaben und Empfehlungen der Behörden steht. Einzelne Beanstandungen in der Umsetzung sind umgehend abgestellt worden.
Haben Sie, haben die Behörden zu spät auf die ersten positiven Befunde reagiert?
Tönnies: Wir haben unverzüglich alle Befunde weitergegeben. Am 17. Juni bin ich ins Kreishaus gefahren und habe gesagt, wir haben jetzt 400 Fälle. Jetzt geht es nicht mehr um Tönnies, jetzt geht es um unseren Kreis und die Menschen hier. Deshalb stecken wir zurück. Ich hatte an dem Tag schon morgens, als die Befunde auf dem Tisch lagen, alle Lebendtiertransporte abgemeldet, damit wir nicht in einen Verarbeitungsdruck kommen. So haben wir die Schlachtung dann sofort eingestellt.
Wie wollen Sie verhindern, dass sich ein Corona-Ausbruch im Betrieb wiederholt?
Tönnies: Wir sagen dem Virus den Kampf an. Wir haben jetzt vier Wochen lang Tag und Nacht gerackert, um den Betrieb jetzt möglichst sicher wieder ans Laufen zu bringen. Kernelement ist die Lüftungstechnik. Hier haben wir zahlreiche Hepa-Filter der höchsten Klasse installiert sowie UV-Bestrahlungsanlagen. Zudem wird intensiv getestet, jeder Mitarbeiter zwei Mal pro Woche. Wir haben die Einhaltung der Mindestabstände optimiert, haben dort, wo Mindestabstände nicht einzuhalten sind, Trennungen aus Plexiglas installiert. Insgesamt haben wir in unserem erweiterten Hygienekonzept die Vorgaben der Experten umgesetzt und setzen damit maßgebliche Standards für die gesamte Branche. Auf Null wird sich das Risiko aber nie reduzieren lassen – das klappt ja auch nicht im normalen Alltagsleben.
Ihr Unternehmen hatte kurz vor der Schließung die Lüftung in der Zerlegung als mögliche Schwachstelle erkannt und Gegenmaßnahmen angekündigt. Wann wussten Sie, dass die Klimatechnik an dieser Stelle womöglich eine Virenschleuder ist?
Tönnies: Das ist so nicht richtig. Wir produzieren in höchsten Qualitätsstandards ein Lebensmittel, mit der geringst möglichen Verkeimung. Dem haben wir alles untergeordnet. Doch das Wissen der Pandemie gab es bis 2020 nicht. Als wir dieses Werk gebaut und weiterentwickelt haben, ist es immer um das Produkt gegangen und die Einhaltung des Hygiene- und Arbeitsschutzes. Die Corona-Gefahr durch Aerosole ist ja erst in den vergangenen Wochen ins Blickfeld der Virologen gekommen. Durch unseren Fall in kalt-trockener Luft ist das Thema jetzt offensichtlich.
Wie gehen Sie mit der massiven Kritik vor allem aus der Politik um?
Tönnies: Viele Aussagen kommen von Leuten, die daraus politisches Kapital schlagen wollen, die mich und unser Unternehmen dafür nutzen wollen. Ich stehle mich aus keiner Verantwortung. Doch ich bin nicht Corona. Es hat uns erwischt, darunter haben wir massiv gelitten. Alle miteinander, insbesondere die Bürger in den beiden Kreisen. Doch wir müssen auch bei der Wahrheit bleiben. Deswegen haben wir im Übrigen einen Faktencheck eingeführt, in dem wir die Aussagen abgleichen mit der Wahrheit. Wir haben beispielsweise nie wissentlich erkrankte Menschen arbeiten lassen, wie es manche behauptet haben. Ich bin sehr gespannt, was die einzelnen Politiker in einigen Wochen oder Monaten sagen. Fast alle, die sich geäußert haben, waren noch nie bei uns, haben sich hier nie die Gegebenheiten angeguckt. Es sind Grenzen deutlich überschritten worden. Manch einer hat einen politischen Feldzug gegen Tönnies geführt. Und dagegen wehren wir uns jetzt auch.
SPD-Vize Ralf Stegner hat über eine mögliche Haftstrafe für Sie spekuliert. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld führt ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung und des Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz. Inwieweit fürchten Sie strafrechtliche Konsequenzen?
Tönnies: Wenn sich ein Politiker darin versteigt, die sofortige Inhaftierung zu fordern, frage ich, was ist das für eine Auffassung von Rechtsstaat? Darüber bin ich massiv verwundert. Wir haben uns immer an Recht und Gesetz gehalten. Wenn man uns Rechtsverstöße vorwirft, dann werden wir das sachlich abarbeiten. Punkt. Und wenn sich die Vorwürfe nicht bewahrheiten, dann bin ich gespannt auf die Reaktionen von denen, die so laut gepoltert haben. Wir warten jetzt die Untersuchungen ab, bei denen wir voll kooperieren.
In der Politik gibt es Stimmen gegen die industrielle Fleischproduktion. Auch der Gütersloher Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU) hat gesagt, Tönnies sei wohl zu groß. Was entgegnen Sie?
Tönnies: Wir haben hierzulande eine gute, kleinbäuerliche Struktur. Unsere 12 000 Lieferbetriebe gehen vernünftig mit den Tieren um. Die arbeiten hervorragend. Dass sie relativ klein sind mit durchschnittlich 1250 Schweinen, bringt aber auch Schwächen mit sich, gerade im Vergleich zu so genannten Agrarfabriken, die in den USA hunderttausende Schweine pro Bestand haben. Wir gleichen dies aus als Hochleistungs-Veredelungsbetrieb, der weltweit Premiumfleisch zu einem guten Preis anbietet. Und damit funktioniert diese Kette. Wenn das jemand verändern will, es dafür politische Mehrheiten und eine Rechtsgrundlage gibt, können wir uns dem nicht widersetzen. Dann muss man aber auch wissen, dass sich die Landwirtschaft weiter verändern wird. Ich bin gerne bereit, den Dialog darüber zu führen.
Wie steht es um das Thema Werkverträge sowie die oft kritisierten Lebens- und Arbeitsbedingungen der osteuropäischen Arbeiter?
Tönnies: Hier werden wir weitere Schritte gehen. Wir werden die Wohnsituation der Beschäftigten in unsere Verantwortung bringen. Wir wollen, dass die 30 Prozent der Mitarbeiter, die heute nicht privat wohnen, zu einem vorgegebenen Standard wohnen können.
Kindergärten und Schulen sind geschlossen, Urlauber aus dem Kreis Gütersloh werden nach Hause geschickt, Bürger werden angefeindet. Wie wollen Sie, wie will der Konzern das im und für den Kreis Gütersloh wiedergutmachen?
Tönnies: Ich habe diese Pandemie nicht erfunden. Mir tut es unendlich leid, dass wir der Auslöser des Lockdowns waren. Deswegen habe ich mich verpflichtet, jeder Bürgerin und jedem Bürger im Kreis Gütersloh im Lockdown einmalig den Corona-Test zu bezahlen. Auch wenn es am Ende 70 000 Tests sind. Das ist konkret und das werde ich auch machen. Aber das ist Goodwill. Wenn einige jetzt sagen, der Deckel mit den Kosten wird immer größer, ist das nicht redlich.
Dass Sie den früheren SPD-Chef und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel als Berater angeheuert haben, ist vielen übel aufgestoßen. Wie bewerten Sie heute sein Engagement und die Kritik, dass es zu viel Nähe zwischen Tönnies und der Politik gibt?
Tönnies: Das ist Unfug. Sigmar Gabriel hat sich genau an die Regeln gehalten mit der Cooling-down-Phase. Dann hat er ein Beratungsprojekt für uns übernommen, bei dem es in erster Linie um Transporte über die Seidenstraße ging. Das ist völlig in Ordnung und nicht zu beanstanden.
Gibt es weitere Beraterverträge mit Politikern?
Tönnies: Nein.
Ein Wort zu Schalke: Wie schwer ist Ihnen der Rücktritt als Vereinsboss gefallen?
Tönnies: Schalke liegt mir natürlich unglaublich am Herzen. Und das bleibt auch so. Als ich den Entschluss gefasst habe, habe ich die wichtigsten Institutionen und Partner gesprochen und meine Entscheidung erklärt. Wir brauchen jetzt sportlichen Erfolg. Ich werde Schalke nicht den Rücken kehren, werde weiter zu Spielen gehen. Ich kann doch nicht einfach die schönsten 26 Jahre meines Lebens, die ich dort hatte, abhaken.
Hat das Land Ihren Rücktritt gerade in dieser Situation zur Bedingung für eine Landesbürgschaft für den Verein gemacht?
Tönnies: Das ist eine Geschichte, die ich noch nicht gehört habe. Unglaublich, wie viel Unsinn in letzter Zeit erzählt wurde.
Was passiert mit der Kreditlinie von 25 Millionen Euro, die Ihr Konzern Schalke zur Verfügung gestellt hat?
Tönnies: Die ist lange ausgelaufen. Jegliches Engagement wäre immer von privater Seite.
Hand aufs Herz – gibt oder gab es für Sie den Gedanken, jetzt mit 64 hinzuschmeißen und Ihr Leben zu genießen?
Tönnies: Nein. Der Kapitän gehört bei rauer See auf die Brücke, nicht in die Koje. Natürlich werde ich hier nicht mit dem Rollator rausfahren. Dafür ist das Leben zu schön.