Zahlen steigen weiter Corona-Hotspot NRW: Droht der Kontrollverlust?
Düsseldorf · Die Corona-Zahlen in NRW steigen aktuell weiter deutlich. SPD-Politiker Karl Lauterbach schlägt Alarm. Wie reagiert die Landesregierung und was kann getan werden? Fragen und Antworten.
In Nordrhein-Westfalen werden wieder so viele Corona-Neuinfektionen festgestellt wie zuletzt Mitte Mai. Mit einem Wert von 114,3 lag das bevölkerungsreichste Bundesland auch am Mittwoch mit weitem Abstand an der Spitze der Bundesländer bei den Neuinfektionen je 100 000 Einwohnern binnen sieben Tagen, wie aus den Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) hervorgeht. Die hoch ansteckende Delta-Variante, viele Reiserückkehrer, verstärkte Tests und eine stockende Impfkampagne - Experten sehen gleich eine ganze Reihe von Faktoren für den rasanten Anstieg. Aber auch die Befürchtung einer zunehmenden Sorglosigkeit der Menschen und die Forderung nach einem einheitlichen Alarmsystem für die vierte Welle sind zu hören. Das NRW-Gesundheitsministerium appellierte erneut, sich impfen zu lassen.
Corona in NRW: Karl Lauterbach schlägt Alarm
SPD-Politiker Karl Lauterbach schlägt Alarm: „Ich glaube nicht, dass wir das durchlaufen lassen können. Und zum jetzigen Zeitpunkt also sind wir an der Schwelle, die Kontrolle zu verlieren“, sagte er im ntv-Interview. Wenn es ein paar Wochen so weiter gehe, seien sehr hohe Inzidenzen zu befürchten - bei Ungeimpften von umgerechnet über 1000. Die Inzidenz steige in NRW schon sehr stark, verdoppele sich zum Teil in Städten in einer Woche. Es gebe noch zu viele Ungeimpfte. Mit der Delta-Variante sei es fast unmöglich oder sogar unmöglich zur Herdenimmunität zu kommen, weil die Schutzwirkung der Impfstoffe nicht hoch genug sei, um zu verhindern, dass sich auch diejenigen infizieren könnten, die schon doppelt geimpft seien. Laut RKI hatte Leverkusen auch am Mittwoch bundesweit die höchste Inzidenz mit 228,4, Wuppertal die dritthöchste.
Corona in NRW: Welche Gründe gibt es für einen steilen Anstieg noch?
Nach Ansicht von Intensivmediziner Uwe Janssens kommen verschiedene Faktoren zusammen. Neben der ins Stocken geratenen Impfkampagne mit einer unzureichenden Durchimpfung der unter 60-Jährigen sieht er auch einen Ferieneffekt. Reiserückkehrer spielten beim Infektionsgeschehen eine nicht unbedeutende Rolle. Das Robert Koch-Institut habe darauf hingewiesen, dass knapp ein Viertel der Infizierten im Zusammenhang mit Reisen zu sehen seien. „Klar erkennbar ist auch, dass das Alter der Infizierten nun deutlich jünger ist“, sagte er der dpa. Die meisten Ansteckungen würden mittlerweile in der Altersgruppe 35 bis 59 verzeichnet, gefolgt von der Altersgruppe 15 bis 34. Zusammen machten die beiden Gruppen laut RKI jüngst 68 Prozent der Infizierten aus. Janssens befürchtet eine zunehmende Sorglosigkeit der Bevölkerung.
Was kann aktuell noch getan werden?
Der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Essen, Ulf Dittmer, verweist ebenfalls auf das Ende der Sommerferien im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW. Der steile Anstieg der Zahlen scheine vor allem auf Reiserückkehrer zurückzugehen, die durch den Schulstart in NRW zurückgekehrt seien. Er hält Impfangebote in vielen Bereichen der Gesellschaft für erforderlich, um noch mehr Menschen vom Impfen zu überzeugen. Auch Drittimpfung für Ältere und Immungeschwächte hält er für sehr wichtig. Janssens erklärte, die Infektionsschutzregeln AHA-L sollten unbedingt weiter verfolgt werden. „Ich persönlich werde zukünftig und vor allem während meiner beruflichen Tätigkeit weiterhin einen Mundschutz tragen“, sagte er.
Wie reagiert die Landesregierung?
Wichtigste Maßnahme sei, das Impfen zu forcieren und dafür zu werben, erklärte das NRW-Gesundheitsministerium. Niedrigschwellige Angebote würden ausgeweitet. Der Anstieg zeige, die Impfquote (61,7 Prozent vollständig geimpft) reiche für eine Herdenimmunität noch nicht aus. Die vierte Welle treffe insbesondere Ungeimpfte. So hätten 85 Prozent der Personen, die mit einem schweren Krankheitsverlauf in die Kliniken eingeliefert werden, keinen vollen oder einen unbekannten Impfschutz, sagte ein Sprecher. Durch die neue Schutzverordnung mit 3G-Regeln - geimpft, genesen, getestet- gebe es in einigen Bereichen zusätzliche Tests. Für Urlaubsrückkehrende am Arbeitsplatz gelte eine Testpflicht. Damit würden Corona-Infektionen früher aufgedeckt.
Was sagt Ministerpräsident Armin Laschet?
„Wir sind sicher der verdichtetste Großraum in Europa“, sagte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) am Dienstag nach einer Kabinettssitzung in Berlin auf Fragen nach Gründen. NRW habe lange Zeit auf Platz sechs oder sieben der Bundesländer gelegen. Jetzt liege NRW einige Tage an der Spitze. „Die Regeln sind überall in Deutschland die gleichen. Sie können es nicht darauf zurückführen, dass es an den Regeln liegt, die gelten.“
Laschet sprach von einer Mischung von Faktoren nach dem Ferienende in NRW. Reiserückkehrer, Einreise aus Hochrisikogebieten sowie Menschen, die in besonders verdichteten Räumen leben, zählte er als Gründe auf. Der Regierungschef betonte, dass im bevölkerungsreichsten Bundesland sehr häufig getestet werde. Der Schulstart sei in NRW besonders vorsichtig begonnen worden. Laschet verwies auf das besondere PCR-Testverfahren mit Lollis für Kinder an den Grund- und Förderschulen sowie darauf, dass die Maskenpflicht in den Schulen nach Ferienende fortbestehe. Kostenpflichtiger Inhalt Das PCR-Testverfahren mit Lollis sorgte gleich nach dem Schulstart für Kritik - etwa in Wuppertal. Schüler mussten auf Verdacht wieder zu Hause bleiben.
Was ist für die Kinder und Schulen wichtig?
Für die Offenhaltung der Schulen im zweiten Pandemie-Herbst spielen Experten zufolge Erwachsene eine entscheidende Rolle. Vereinzelte Infektionen an den Schulen sind nach Ansicht des Berliner Virologen Christian Drosten hinnehmbar, wenn möglichst alle Eltern und Lehrer geimpft sind. „Ein kontrolliert schwelendes Geschehen muss man akzeptieren, wenn der Schulbetrieb laufen soll. Man wird nicht jegliche Verbreitung an Schulen unterbinden können, aber möglichst eine unkontrollierte Ausbreitung.“ Ganz zentral bleibe bei den Schulen das Erwachsenen-Umfeld. Lehrer und Eltern sollten möglichst zu 100 Prozent geimpft sein, betont Drosten. Vorstellbar seien etwa Impfkampagnen für Eltern an den Schulen. Denn: „Natürlich dürfen die Schulen möglichst nicht noch einmal geschlossen werden.“
Die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek hält es generell für wichtig, dass sich so viele Erwachsene wie möglich impfen lassen. „Das ist wichtig für den Eigenschutz, aber eben auch, um diejenigen zu schützen, die sich nicht beziehungsweise noch nicht impfen lassen können. Dazu zählen insbesondere auch Kinder.“
Die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt weist darauf hin, dass sich besonders bei der Delta-Variante rasch sehr viele Menschen infizieren können. „Es wird also bei einer tolerierten Ausbreitung des Virus an den Schulen durch die große Anzahl an nicht geimpften Schülerinnen und Schülern fast zwangsläufig auch in dieser Gruppe zu schweren Verläufen kommen.“
Ist auch in anderen Bundesländern ein Anstieg zu befürchten?
„In Nordrhein-Westfalen geht die Schule wieder los und dadurch wird auch vermehrt getestet. Es steht außer Frage, dass auch in anderen Bundesländern die Inzidenzzahlen wieder hochgehen werden“, sagte der Virologe Hendrik Streeck der dpa. „Vor allem im Herbst und Winter müssen wir uns auf hohe Infektionszahlen einrichten.“ NRW habe aber auch eine der höchsten Impfquoten. „Die Meldeinzidenz alleine ist vor allem in dieser Phase der Pandemie nicht mehr der richtige Parameter um das Infektionsgeschehen zu bemessen, sondern es ist höchste Zeit, endlich die Hospitalisierungsrate ebenso als maßgeblichen Indikator bei Entscheidungen zu berücksichtigen“, unterstrich der Virologe.
Welche Forderungen gibt es noch an die Politik und Wirtschaft?
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, fordert ein bundesweit einheitliches Alarmsystem nach den jüngsten Lockerungen. „Manchmal hat man den Eindruck, dass wir in Deutschland in der Pandemie im Schneckentempo lernfähig sind“, sagte er der dpa. Lauterbach appellierte statt des 3G-Prinzips - geimpft, genesen, getestet - das 2G-Prinzip - geimpft, genesen - so viel wie möglich anzuwenden. Er nannte in dem Zusammenhang Unternehmen, Besitzer von Restaurants und Betreiber von Fitnessstudios. Die Landesregierung betonte, dass sie bei allen Corona-Schutzmaßnahmen die Kennziffern zum Infektionsgeschehen sehr genau im Blick habe. Dazu gehörten neben der Inzidenz auch der R-Wert und die Situation in den Krankenhäusern.
Das 2G-Prinzip führt Hamburg optional ein: Wie der Senat der Hansestadt am Dienstag beschloss, dürfen diese ihre Dienstleistungen dann freiwillig nur noch für Geimpfte und Genese anbieten und werden im Gegenzug von nicht mehr erforderlichen Coronaschutzauflagen befreit. Dadurch können sie etwa mehr Besucher einlassen oder eine freie Platzwahl ohne obligatorische Abstandsgebote anbieten.Die Option richtet sich demnach unter anderem an Theater, Kinos, Musikklubs, Messebetreiber, Restaurants, Hotels, Schwimmbäder, und Fitnessstudios.
Wann waren die Zahlen zuletzt so hoch?
Nach Daten des Landeszentrums Gesundheit NRW lag die Inzidenz des Bundeslandes zuletzt am 13. Mai mit 105,4 über der Marke 100. Der niedrigste Landeswert in diesem Sommer wurde am 2. Juli mit 5,6 Fällen je 100 000 Einwohnern binnen sieben Tagen verzeichnet. Seitdem ging es dann zunächst allmählich und jüngst sehr steil nach oben. In den NRW-Krankenhäusern steigen die Patientenzahlen wieder an, wie aus einer Übersicht der Landesregierung hervorgeht. Landesweit werden 221 Menschen mit einer Corona-Infektion auf einer Intensivstation behandelt. Das sind 67 mehr als am Montag der vergangenen Woche. Zu den Pandemiehöhepunkten Ende Dezember und Anfang Mai mussten jeweils mehr als 1100 Corona-Infizierte intensivmedizinisch behandelt werden.
Wie geht es mit der Bedeutung der Corona-Inzidenz weiter?
Es ist noch nicht lange her, da wurden Gebiete mit einer Corona-Inzidenz von mehr als 50 als „Hotspot“ bezeichnet, Beschränkungen für Treffen von Menschen, Freizeit, Handel und Reiseregeln wurden an dieser Zahl ausgerichtet. Nun wird sie aus dem Infektionsschutzgesetz gestrichen. Die Zahl der Krankenhausaufnahmen soll die wichtigste Kennzahl werden. Wie das konkret aussehen soll, blieb aber zunächst unklar. Die Inzidenz als Maßstab für die Corona-Regeln wird vorerst bleiben, hatte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann angekündigt, als er die 3G-Regeln für NRW ankündigte.
Die bundesweit festgelegte Kennzahl 50 spielt bei den konkreten Regeln schon keine Rolle mehr, in NRW gilt ab einer Inzidenz von 35 bei vielen Gelegenheiten Eintritt nur getestet, geimpft oder genesen. In Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes steht aber momentan noch: „Bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen.“ Die 50 soll nun raus aus dem Gesetz. Künftig soll die Zahl der Hospitalisierungen, also der Krankenhauseinweisungen insgesamt, eine entscheidende Rolle spielen. Welche Kennzahlen es da geben soll, darüber wird laut Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch beraten. Dafür wird seinen Angaben nach noch einmal ein genauer Blick auf die Belegung der Kliniken in den vergangenen beiden Corona-Wellen geworfen.
Was passiert, wenn die künftigen Grenzwerte überschritten werden? Dann wird es voraussichtlich nur weitere Einschränkungen für Ungeimpfte geben. Zugänge zu Veranstaltungen oder zum Friseur nur mit Test könnten gestrichen werden. Aus der jetzt geltenden sogenannten 3G-Regelung (geimpft, genesen, getestet) würde eine 2G-Regelung. Geimpfte und Genesene müssen nach Aussage der Bundesregierung keine gravierenden Einschränkungen mehr befürchten. Auf die Frage, ob es im Herbst einen Lockdown geben werde, antwortete Spahn am Montagabend in den ARD-„Tagesthemen“: „Für Geimpfte und Genesene sicher nicht.“ Er sagte auch: „Die Schulen sollen gar nicht mehr schließen.“