Es gab nicht nur Jacob und Wilhelm: Über den vergessenen Ferdinand, der 1810 sein Coming-Out hatte, ist jetzt ein Buch erschienen Der schwule Grimm-Bruder schrieb auch Märchen auf

FRANKFURT/HANAU. · Ob Hans im Glück oder Dornröschen - bei deutschen Märchen denkt jeder an die Brüder Grimm. Dabei waren Jacob und Wilhelm nicht die einzigen in der Familie, die Märchen sammelten. In ihrem neuen Buch „Der fremde Ferdinand“ lassen die Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz einem weitgehend unbekannten Bruder Grimm späte Gerechtigkeit widerfahren.

Im Schatten der berühmten Gebrüder Grimm stand Ferdinand, der immer etwas anders war.

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Denn einen großen Teil der biografischen Erkundung nehmen die von Ferdinand Grimm gesammelten Sagen und Märchen ein.

Als germanistischer Detektiv war Boehncke bereits in der Vergangenheit mit einem Buch über Goethes Großvater aktiv. „Wir sind da irgendwie reingeschlittert in die Suche nach den Vergessenen“, sagt er.

Am ehesten bekannt war bislang Ludwig Emil Grimm, der malende Grimm-Bruder. Ferdinand, Carl und Charlotte, das jüngste Kind und einzige Mädchen der Familie, waren in der Forschung dagegen bisher kaum beachtet worden. Boehncke, der selbst in der Nähe von Ferdinands Geburtsort Hanau lebt, und Sarkowicz wollten das ändern. „Der Ferdinand war der bei weitem Interessanteste“, sagt Boehncke. „Wir haben herausgefunden, dass er drei Bände mit Sagen und Märchen herausgegeben hat.“

Die Brüder bezeichneten
Ferdinand als „Faulpelz“

Von geschwisterlicher Liebe ist in Briefen der älteren Grimm-Brüder nicht allzu viel zu lesen über Ferdinand, der Ambitionen als Schauspieler hatte und sich für Vögel begeisterte. „Dieser Faulpelz, dieser Fensterpfeifer“, schrieben sie darin, berichtet Boehncke.

Doch auch wenn Ferdinand schon vorher von seinen Brüdern häufig getadelt wurde, ist in der spärlichen Literatur über die Grimm-Familie von einer Familienkrise am Weihnachtsfest 1810 die Rede. Boehncke und Sarkowicz wurden neugierig und gingen in der Handschriftensammlung der Berliner Staatsbibliothek auf Spurensuche - die Grimms waren ja eine schreibfreudige Familie. „Dann haben wir alle Briefe, die in dieser Causa geschrieben wurden, mal zusammengelegt, haben schöne Stellen gefunden, haben auch noch andere Briefe gefunden“, erzählt Boehncke. Am Ende gab es eigentlich nur eine Erklärung: „Ferdinand war schwul.“

Andeutungen über den „sonderbaren“ Bruder, der „anders lebte“, über den es einen „Verdacht“ gab, hatte es wohl schon in der Vergangenheit gegeben. Doch an jenem Weihnachtstag muss sich Ferdinand, so die Schlussfolgerung der Autoren, zum Coming-out entschlossen haben. Und dabei hatte der Grimm-Bruder mit den schauspielerischen Ambitionen zugleich eine größtmögliche Bühne, um sich zu erklären: „Man hat ja zu Weihnachten bei den Grimms die Vorstellung von Biedermeiermöbeln, Weihnachtsbaum, gemeinsamen Singen von Liedern aus dem Evangelischen Gesangbuch“, sagt Boehncke. „Doch weit gefehlt: Es war ein rauschendes Fest, die Türen zur Straße waren offen, es gab einen Stehgeiger.“ Was immer Ferdinand zu sagen hatte, es blieb kein diskret gehütetes Familiengeheimnis, sondern war öffentlich.

Angesichts seiner Qualität als Autor und Sammler von Märchen stehe Ferdinand Grimm jedenfalls zu Unrecht im Schatten der berühmten Brüder, meint Boehncke. Zumal der finanziell klamme Ferdinand viel zu Fuß reiste. „Er hat den Leuten aufs Maul geschaut“, lobt Boehncke. Dass Jacob und Wilhelm dagegen vor Ort in den Dörfern oder Städten altes Volksgut recherchierten, sei ein Mythos. Die seien keinen Schritt gelaufen, saßen demnach meist in ihrer Wohnung.

Ferdinand sei „ein ganz wunderbarer Schreiber“ gewesen, schwärmt Boehncke. Und in manchem Märchen habe er sich selbst eingebracht, etwa seine große Einsamkeit. So lasse er etwa in einer Geschichte die Tochter einer Hexe sagen, sie habe „nur ihre Bücher und ihre Vögel“.

Mit ihrem Buch, so beteuern die beiden Autoren in ihrem Vorwort, wollen sie nicht die Verdienste von Jacob und Wilhelm Grimm schmälern. „Wir erlauben uns aber, ihrem Bruder Ferdinand die Gerechtigkeit nachzutragen, die sie ihm verweigert haben.“