Corona-Pandemie Deutschland vor Corona-Lockdown: Merkel und RKI warnen: „Lage ernst wie nie“
Berlin · Vor dem Start des harten Winter-Lockdowns warnen Wissenschaft und Politik. Unvorsichtiges Verhalten in dieser Phase sei „verheerend“ für die Gesellschaft, so Kanzlerin Angela Merkel.
Zum Start verschärfter Corona-Beschränkungen über den Jahreswechsel an diesem Mittwoch hat die Bundesregierung alle Bürger eindringlich zum Mitziehen aufgerufen. Der Shutdown sei wegen zu hoher Infektionszahlen geboten, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Dienstag in Berlin. „Lieber jetzt mit Aussicht auf Erfolg, als erst nach Weihnachten mit dem Risiko großer Nebenwirkungen.“ Kanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte, unvorsichtiges Verhalten in dieser Phase sei „verheerend“ für die Gesellschaft. In einer Sitzung der Unionsfraktion habe Merkel auf die hohe Zahl der Einkaufenden vor dem Start des Lockdown am Mittwoch hingewiesen, erfuhr die Nachrichtenagentur AFP laut eigenen Angaben von Teilnehmern. Merkel hoffe, "dass das Einkaufsverhalten jetzt am Montag und Dienstag uns nicht nach hinten wirft", wurde die Kanzlerin zitiert. "Die Kurve in Deutschland sieht sehr schlecht aus", sagte Merkel laut Teilnehmern mit Blick auf das Infektionsgeschehen. "Wir steuern auf einen Inzidenzwert von 200 für ganz Deutschland zu." Der Anstieg bei der Nutzung der Intensivbetten sei "massiv". Hinzu komme, dass "an manchen Tagen hunderte Betten als nicht mehr einsatzfähig abgemeldet werden, weil Mitarbeiter erkranken, es keine Fachkräfte gibt".
Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, betonte: „Die Lage ist so ernst, wie sie noch nie war in dieser Pandemie.“ Für den Beginn bald angestrebter Corona-Impfungen laufen weitere Vorbereitungen.
Spahn sagte, die bisherige Balance mit Beschränkungen vor allem bei privaten Kontakten und in der Freizeit sowie offenen Schulen und weiter laufendem Wirtschaftsleben sei nicht mehr zu halten gewesen. „Wir haben gesehen, dass sich eine dritte Welle praktisch schon wieder begann aufzubauen, bevor die zweite tatsächlich abgeflaut war.“ Wichtig sei nun, die vereinbarten Beschränkungen in allen Regionen und Bereichen auch konsequent umzusetzen.
Ab Mittwoch wird das öffentliche und private Leben in ganz Deutschland weiter deutlich heruntergefahren. Geschäfte - außer die für den täglichen Bedarf - müssen schließen. Schulen sollen geschlossen oder die Anwesenheitspflicht ausgesetzt werden. Private Treffen bleiben auf den eigenen und einen weiteren Haushalt, in jedem Fall auf maximal fünf Personen beschränkt - Kinder bis 14 Jahre ausgenommen. Nur zu Weihnachten vom 24. bis 26. Dezember gibt es Lockerungen. Die Einschnitte gelten vorerst bis 10. Januar.
RKI-Chef Wieler sagte, mit 12 000 bis 29 000 täglich gemeldeten Neuinfektionen lägen die Zahlen im Dezember deutlich höher als im November. Aktuell seien 325 000 Menschen infiziert, dagegen seien es in den Sommermonaten wenige Tausend gewesen. „Was wir zurzeit sehen, ist das Ergebnis der Sorglosigkeit einiger Menschen, für die andere Menschen wiederum einen sehr hohen Preis zahlen müssen.“ Stärker betroffen seien 80-Jährige mit hohem Risiko für schwere und tödliche Verläufe. „Wenn das Virus erst einmal breit in der Bevölkerung zirkuliert, dann wird es immer schwieriger, die vulnerablen Gruppen zu schützen, das Virus zum Beispiel aus den Heimen herauszuhalten.“
Merkel sagte, einige Menschen nutzten jede Lücke aus, die die Politik nicht geregelt habe. „Das ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft auch nicht so schön. Manche forderten das Risiko heraus. Dies sei „verheerend“, sagte sie bei einem Online-Gespräch mit Studierenden. Die Kanzlerin bedauerte, dass die Bereitschaft zu Einschränkungen im Vergleich zum Frühjahr gesunken sei. Dabei würden am Tag mindestens 400 Menschen an oder mit Covid-19 sterben. Manche beruhigten sich damit, dass es vor allem Ältere treffe. Dabei gelte: „Ob meine Eltern mit 80 oder mit 90 sterben, ist schon ein Unterschied.“
Spahn setzt auf einen baldigen Beginn von Corona-Impfungen. Damit könne hierzulande spätestens zwei bis vier Tage nach der Zulassung begonnen werden. Man werde sich beim Hersteller um eine zügige Lieferung bemühen, wobei das Paul-Ehrlich-Institut die einzelnen Chargen des Impfstoff jeweils freigeben müsse. Die Länder verteilen das Serum dann auf regionale Impfzentren. Da es zuerst nicht so viel Impfstoff gebe, würden diese anfangs nicht unter Volllast fahren.
Die Reihenfolge von Impfungen zeichnet sich inzwischen ab. Vorrang haben sollen nach einem vom Bundestag grundsätzlich beschlossenen Rahmen Menschen mit Risiko für schwere Krankheitsverläufe, Personal im Gesundheitswesen und Beschäftigte in wichtigen Bereichen der Daseinsvorsorge. „Es muss nicht gewartet werden, bis die eine Gruppe komplett durchgeimpft ist“, erläuterte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx. Sie wandte sich gegen Sonderrechte für bereits Geimpfte - etwa ein Nachlassen bei den Einschränkungen.
Spahn betonte, dass zuallererst Menschen geschützt werden sollten, „die sich nicht selbst schützen können“ - etwa mit Demenz. Als weitere Schritten nannte er eine erwartete finale Stellungnahme der Ständigen Impfkommission beim RKI. Länder und Ministerien sollten über eine überarbeitete Fassung einer Impf-Verordnung beraten. Dann diskutiere darüber das Parlament. „Erst nachdem sich der Deutsche Bundestag damit beschäftigt hat, werde ich wahrscheinlich am Freitag die Verordnung abschließend unterzeichnen“, sagte Spahn. Er machte deutlich, dass kein erneutes Gesetz dazu vorgesehen sei.
Die Direktorin des Instituts für Virologie der Frankfurter Uniklinik, Sandra Ciesek, nannte es „zynisch“, anzunehmen, dass die Lage in Ordnung sei, wenn es noch freie Betten in den Intensivstationen gebe. Das verkenne die Lage der Sterbenden und Schwerkranken. Wenn es so weitergehe wie bisher, gebe es zudem einen „schrittweisen Kollaps des Gesundheitssystems“. Spahn sagte zu Kritik an früheren Aussagen zu wohl nicht nochmals nötigen Schließungen von Geschäften und Friseursalons: „Ich hätte lieber richtig gelegen, ohne Zweifel.“ Es sei aber ein Punkt erreicht, an dem alles eingeschränkt werden müsse.