Zweiter Weltkrieg Als ein Bomber über dem Wildpark in Grafenberg abstürzte
Düsseldorf · Aus einem im Rotwildgehege gefundenen Wrackteil wurde das erste Puzzlestück zu einer dramatischen Geschichte.
Es war ein unscheinbares Stück Metall, das Forstbedienstete Anfang 2010 im Rotwildgehege des Grafenberger Wildparks fanden. Und dieses dann einer Gruppe von ehrenamtlichen Archäologen zeigten. Unter ihnen: der Düsseldorfer Thomas Boller. Der 47-Jährige identifizierte den gefundenen Gegenstand, auf dem sich ein paar Nieten fanden, als Teil eines Flugzeugs. Da musste noch mehr sein. Boller und seine Archäologen-Freunde durften mit Erlaubnis des Wildparks auch im benachbarten Wildschweingehege mit Hilfe von Metalldetektoren weiter suchen. Und fanden in den folgenden Wochen noch mehr Teile, unter anderem einen Feuerlöscher eines, so ergaben die Recherchen, Lancaster-Bombers. Abgestürzt in der Nacht des 12. Dezember 1944 über dem Wildpark.
540 Flugzeuge waren in England Richtung Essen gestartet
Boller, im Hauptberuf technischer Betriebswirt bei einem Automobilzulieferer, lies das Thema nicht mehr los. Jahrelang recherchierte er, was da damals passiert sein musste – heraus kam das soeben erschienene Buch „Springt ab, Freunde, wir wurden getroffen“.
Der Lancaster-Bomber war wenige Monate vor Kriegsende, am 12. Dezember 1944, nachmittags zusammen mit 539 anderen Flugzeugen in Nordostengland gestartet. Auftrag: Bombardement der Essener Krupp-Werke und damit auch der Bevölkerung um den Industriebetrieb. Mehr als 463 Menschen fanden bei dem Angriff den Tod. 196 wurden verwundet und 40 vermisst. 696 zerstörte Häuser wurden verzeichnet, weitere 1370 schwer beschädigte.
Das im Wildpark abgestürzte Flugzeug hatte zuvor seine Bombenlast bereits abgeworfen, befand sich auf dem Rückflug nach England, als es von einem deutschen Nachtjäger getroffen wurde. Drei der sieben Besatzungsmitlieder des Bombers überlebten, gerieten nach ihrem Fallschirmabsprung in Kriegsgefangenschaft. Vier starben.
Jahrelange Recherche des Autors in mehreren Ländern
Wie hat Thomas Boller das und noch viel mehr herausgefunden? Der Düsseldorfer erzählt, er habe in einem Luftwaffenmagazin einen Artikel gelesen, in dem der Neffe des Piloten über den Absturz seines Onkels berichtet hatte. Eben diesen Neffen machte Boller über das Internet ausfindig. Der erste Schritt beim Knüpfen eines Kontaktnetzwerks zu Verwandten der siebenköpfigen Besatzung. Soldaten aus England, Kanada und Neuseeland. Es gab Mail-Kontakte, persönliche Treffen. Und dabei konnte Boller auch einen Einblick in die Gemütslage der Besatzung erhalten.
Der Neffe des bei dem Absturz ums Leben gekommenen Heckschützen John Patterson stellte Boller mehrere Briefe seines Onkels zur Verfügung. „Natürlich durften die Soldaten nicht über ihre Einsätze schreiben“, sagt Boller, aber zwischen den Zeilen, lasse sich doch viel über ihre Gemütslage herauslesen. „Da saßen keine blutrünstigen Monster in den Maschinen, die sich freuten, über brennende Städte zu fliegen. Klar wussten sie, was sie tun, und es ist bestimmt auch etwas anderes, das angerichtete Leid aus 7000 Metern Höhe zu sehen, als es am Boden mitzuerleben.“ Aber auch die Angreifer in den Flugzeugen hätten doch den Wunsch gehabt, dass der Krieg möglichst schnell vorbei sein würde.
Briefe des beim Abschuss gestorbenen Heckschützen
So schreibt Patterson Wochen vor seinem tödlichen Einsatz Sätze wie diese an seine Angehörigen: „Ich wünschte, ich könnte euch über einige Dinge, die ich hier erlebt habe, berichten. Mir sind ein paar Dinge widerfahren, von denen ich bisher dachte, diese seien mehr oder weniger Geschichten und so was gäbe es gar nicht. Nun weiß ich es besser, und ich weiß auch, dass Gott mit mir ist und mir hilft, alles zu durchstehen.“ Oder in einem Brief an seinen Bruder Doug: „Glaube nicht, dass das hier glamourös ist, es ist alles andere als das.“ Oder dies: „Es fällt mir schwer, über den Alltag zu schreiben, da ich jeden Tag Freunde verliere. Aber so ist das Leben. Heutzutage wird man ständig mit solchen Gedanken konfrontiert, und ich kann nicht behaupten, dass ich mir keine Sorgen mache. Macht ihr euch keine Sorgen um mich, Leute. Ich behalte immer den Überblick.“
Gewiss, in den Jahren seiner Recherche sei er immer wieder auch darauf angesprochen worden, warum er sich denn so ausführlich mit den Tätern beschäftige, sagt Boller. „Die haben doch Bomben auf unsere Städte geworfen“, das könne man doch nicht glorifizieren, werde ihm vorgeworfen. „Genau das mache ich doch gar nicht“, sagt Boller. „Ich rede nichts schön, glorifiziere schon gar nicht. Ich wollte nach der Entdeckung des Metallstücks im Wildpark, mit dem alles begann, herausfinden, was da passiert war.“ Alles andere habe sich bei der Recherche ergeben. Er habe versucht, das Buch aus der menschlichen Sicht zu schreiben. „Von eiskalten emotionslosen Kreaturen in den angreifenden Flugzeugen kann da keine Rede sein.“
Genauso wenig halte er so etwas dem deutschen Piloten vor, der den Bomber abgeschossen hatte. Auch zu dessen Sohn hatte Boller Kontakt. Dessen Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Auch dieser war nach dem Abschuss auf dem Rückflug zu seinem Standort in Hessen abgestürzt und hatte sich per Fallschirm gerettet. Sein Vater habe nur sehr wenig über seine Kriegseinsätze gesprochen, habe der Sohn ihm berichtet. So wie auch die drei Überlebenden, mittlerweile längst verstorbenen Besatzungsmitglieder des abgestürzten Flugzeugs. Auch deren Angehörige erzählten Boller, dass diese von den dunklen Jahren nur wenig sprachen und nach Kriegsende lieber wieder zurück ins Leben wollten.
Die Frage, „ob wir Menschen gedenken sollen, die unsere Heimat bombardiert haben“, beantwortet auch Peter Henkel, früher bei der Mahn- und Gedenkstätte, jetzt in der Planungsgruppe für das Haus der Geschichte NRW, in einem Vorwort zu dem Buch mit Ja. Mit Bezug auf die Bombardierungen schreibt er: „Wie unermesslich das Leid war – das dürfen wir nicht relativieren. Aber wir müssen auch sehen, dass das NS-System dieses Leid für sich nutzbar gemacht und damit das Leiden der eigenen Bevölkerung verschärft hat. Wir sollten stolz sein, dass mittlerweile aus Kriegsgegnern, die sich unerbittlich bekämpft haben, Freunde geworden sind.“
Das Buch von Thomas Boller „Springt ab, Freunde, wir wurden getroffen“ mit zahlreichen Dokumenten und Fotos (192 Seiten) ist erschienen im Droste Verlag und kostet 20 Euro.