„Das Trauma bleibt“: Der Lebensabend in einem jüdischen Seniorenheim
Sie haben den Judenhass erlebt und die Schrecken der Konzentrationslager. Doch geredet wird darüber im jüdischen Seniorenheim in Düsseldorf selten. Dass Auschwitz vor 70 Jahren befreit wurde? Ist hier ganz wichtig - und doch kein Thema.
Düsseldorf (dpa) - Eine Puppe liegt auf der bunten Bettdecke. Eine andere sitzt etwas schief auf dem Stuhl und lächelt. Edith Bader-Devries sitzt daneben auf einem Stuhl am Tisch und schlägt einen großen Ordner auf. Sie zeigt ein gemaltes Bild: Ein Mädchen umklammert eine Puppe. Im Hintergrund ist das Konzentrationslager Theresienstadt zu sehen.
Zweieinhalb Jahre war die Jüdin dort als kleines Mädchen gefangen. „Die ganze Zeit hatte ich keine Puppe. Ich habe sehr darunter gelitten“, erzählt sie. Das ist lange her, und doch unvergessen. Am Dienstag (27.1.) jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, des größten NS-Vernichtungslagers, zum 70. Mal.
Heute hat die 79-Jährige ein kleines Zimmer im Düsseldorfer Nelly-Sachs-Haus, einem von neun jüdischen Elternheimen in Deutschland. Es nennt sich Elternheim, weil es im jüdischen Glauben zwei Säulen gibt: Die Kinder und die Eltern, erklärt Heimleiter Bert Römgens.
110 Menschen finden in dem Haus einen schönen Lebensabend. Sie führen ein traditionell jüdisches Leben, feiern Feste und Feiertage. Über die Vergangenheit und ihre Erlebnisse während der Nazi-Zeit möchten viele nicht sprechen. Auch Bader-Devries fehlten 30 Jahre lang die Worte dafür. „Jetzt rede ich für die Verstummten“, sagt sie überzeugt.
„Ich konnte nie wirklich Kind sein“, erzählt die alte Dame und zeigt ein Bild von ihr als kleinem Mädchen. Die Kindheit wird ihr 1942 mit ihrer Deportation genommen. Im KZ musste sie ihre Familie ernähren. Dreimal erkrankte ihr Vater, vor dem Krieg ein hoch angesehener Mann, an Hungertyphus. Ihre Mutter konnte die Aufseher überzeugen, dass sie nicht in ein Kinderheim kam, sondern bei ihr bleiben konnte. Mit anderen Erwachsenen wohnte sie eingezwängt in einer Baracke. „Außen waren die Betten, in der Mitte lagen die Toten.“
Sie blättert weiter in ihrem Ordner, schaut Kinderporträts an. Es sind jüdische Kinder aus der ehemaligen Nachbarschaft oder der Schule. Nach dem Krieg sind sie nicht nach Hause gekommen. Dann holt Edith Bader-Devries ihren gelben Davidstern aus einer Klarsichthülle. Sie hält ihn an die Brust. All die Jahre hat das Symbol der Diskriminierung, Anfeindung und Ausgrenzung überlebt.
Im Elternheim ist die 79-Jährige noch nicht lang. Sie fühlt sich wohl, macht gern Yoga und autogenes Training. In einer kleinen Synagoge finden sie und die anderen Bewohner Ruhe. Koscheres Essen wird im Speisesaal serviert, der in den Farben Israels geschmückt ist - blau und weiß.
Die Menschen hier haben alle den Antisemitismus erlebt, viele waren in einem Konzentrationslager. Sie sind vertraut mit dem Gefühl der Diskriminierung und Ausgrenzung. „Das Trauma bleibt“, sagt Heimleiter Römgens.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 steht ein Polizeiwagen vor der Tür. Nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ in Paris wurde der Polizeischutz für das jüdische Seniorenheim verstärkt. Doch vor den Schlagzeilen kann auch die Polizei nicht schützen. Die großen Anti-Israel Demonstrationen vergangenen Sommer, Pegida, der Terror: „Die Angst war schon spürbar“, sagt Römgens.
Doch auch, wenn die Angst und das Leiden von damals viele bis heute prägen: Gesprochen wird darüber nur selten. „Wie arbeitet man auf, wenn eine Mutter hier lebt, deren Sohn in Auschwitz ermordet wurde?“, fragt Römgens. „Das kann man nicht. Man kann nur für den anderen da sein, versuchen sein Leid zu verstehen.“
Der 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung am Dienstag ist hier kein großer Tag. „Wir wissen, wem gedacht werden muss“, sagt Römgens. „Wichtig ist, dass es außerhalb jüdischer Institutionen nicht vergessen wird.“