Kolumne Der Tag, an dem der Eselsbach berühmt werden wollte
Düsseldorf · Eine Entdeckungsreise zwischen Düsseldorf-Eller und Erkrath-Hochdahl – zwei Bahntrassen, zwei Autobahnen und der Unterbacher See inklusive. Oder: Wie ein sprechender Bach daran scheitert, sich hinter Rhein und Düssel als fließender Hotspot zu inszenieren.
Du bist also Düsseldorf-Tourist? Hm, also ich weiß nicht, ob wir da überhaupt zusammenkommen. Ich meine: Das, was du mit hoher Wahrscheinlichkeit suchst, kann ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bieten. Nachtleben, Kultur, Shopping-Meilen, „Events“: Bei mir nicht. Ach so, du bist jemand, der gerne mal „abseits der Spur“ unterwegs ist? Dann mach dein Fahrrad startklar, geht gleich los. Keines dabei? Dann frag einfach an der Hotel-Rezeption nach und miete dir eines.
Mit wem du es zu tun hast? Ich bin Erkrather. Und ich bin Düsseldorfer. So wie Toni Turek. Okay, eine Weltmeisterschaft habe ich noch nicht gewonnen, ebenso wenig ist ein Stadion nach mir benannt worden. Dafür bin ich: der „Bach des Jahres 2020.“ Diese Auszeichnung ist neu, sie wird fortan vom Bundesumweltminister Jahr für Jahr im Januar vergeben, und ich bin der erste Preisträger. Wie jetzt? Du kanntest mich bisher nicht? Googele mal „Eselsbach Düsseldorf“, dann weißt du Bescheid: linker Nebenfluss der Düssel. Einen eigenen Wikipedia-Eintrag habe ich noch nicht, aber das dürfte sich bald ändern.
So, genug des Vorgeplänkels: Du fährst jetzt mit deinem Fahrrad entlang der Südlichen Düssel, bis zum Friedhof Eller. Muss ich nicht im Detail erklären, oder? Das wirst du schon hinbekommen. Dort treffe ich auf die Südliche Düssel, und ich wage mal zu behaupten, dass wir beide gleich breit sind bei dieser Vereinigung. So circa drei bis vier Meter. Unbestritten ist auch, dass sich Düsseldorfs Namensgeber nur durch meine vorherige Unterstützung an der Werstener Dorfstraße so breit wie nirgendwo sonst im Stadtgebiet ausdehnen kann. Zumindest hat noch keiner das Gegenteil behauptet. Wie auch immer: Bevor ich „Bach des Jahres“ geworden bin, fühlte ich mich – ehrlich gesagt – ein wenig unterrepräsentiert. Aber das ist ja jetzt vorbei, jetzt werde ich berühmt. Bei Google Maps habe ich schon 22 Rezensionen. Und wenn du meinen Namen bei Google News eingibst, triffst du auf Artikel-Überschriften wie die folgende: „Eselsbach soll 2021 aufgewertet werden“.
Du fährst also stromaufwärts an meinem Ufer entlang. Mindestens so gerade wie die Königsallee verlaufe ich hier, und majestätisch ist das rein gar nicht. Ich bin eigentlich – wie Bäche nun mal sind – ein eher verspielter Typ, schlängele mich mal nach links, mal nach rechts, und auch gegen Treibholz und ins Wasser gefallene Bäume und schöne Uferpflanzen habe ich nichts einzuwenden. Stattdessen die Zwangsjacke: ein teilbetoniertes Flussbett, angelegt von phantasielosen Siebziger-Jahre-Bürokraten, das nur einen Zweck zu haben scheint: Mein Wasser so schnell wie möglich Richtung Düssel und Rhein zu schicken. Funktion vor Schönheit, Zweckmäßigkeit vor Natur. Nach einer langgezogenen Kurve siehst du, wie ich vom Hoxbach Verstärkung bekomme. Im Hintergrund leuchten die Reisholzer Werbeschilder von Ikea und Kentucky Fried Chicken, aber die sind nicht für dich, die sind für die Autofahrer auf der dazwischenliegenden A46. Also: Noch kannst du umkehren, denn wenn du „Ruhe-Oasen“ in der Großstadt suchst, bist du bei mir falsch – es sei denn, du hältst dir die Ohren zu. Ohne das Autobahn-Grundrauschen bin ich nicht zu haben. Aber bleib locker: Je weniger du darüber nachdenkst, desto weniger hörst du es.
Während ich in einer S-Bahn-Unterführung verschwinde, fährst du 150 Meter nach rechts – und biegst dann links in den Schlosspark Eller ein. Und wenn du deinen von Geburt an installierten Navi, auch Orientierungssinn genannt, einschaltest, wirst du mich schnell wiederfinden. An meinem Ufer siehst du: einen Hundeauslauf, einen Bauernhof, mehrere Teiche – und das Schloss Eller. Über das Schloss Eller könnt ich jetzt so einiges erzählen, andererseits habe ich keine Lust, mir die Show stehlen zu lassen. In diesem Sinne: Kleine Seitenausflüge sind erlaubt, aber letztlich weise ich die Richtung.
Weiter also, immer am Ufer: Du überquest die Deutzer Straße und folgst an der street-art-verzierten Hauswand dem Weg zu meiner Rechten. Über die Brücke am Hasseler Richtweg hinweg wechselst du das Ufer, bleibst an meiner Seite – 500 Meter, bis ich erneut unter einer Bahntrasse entschwinde. Du machst einen Umweg, musst dich links halten und gelangst über einen Schotterweg zu einer Rad- und Fußgängerüberführung. Du könntest nun Güterzüge beobachten, auf denen Container mit der Aufschrift „Hamburg Süd“ Richtung Norden fahren. Aber das interessiert dich nicht, denn du willst ja zu mir. Auf der anderen Seite, am Wanderparkplatz, hältst du dich scharf rechts, fährst dem Unterbach-Schild folgend parallel zur Bahntrasse. Und dann siehst du mich auch schon – und merkst, dass die Betonbettbauer ihre Hoheit verloren haben: Im Eller Forst bin ich renaturiert, kann meine Launen ausleben. Gurgele und strudele – oder bin träge. Mein Grund ist meist mit hellem Sand bedeckt, und am liebsten lasse ich Äste, ja sogar Bäume mikadomäßig auf mich stürzen – in der Hoffnung, dass Spielkinder sie benutzen, um mich zu überqueren. Hast du Kinder? Nächstes Mal nimmst du sie mit! Sag ihnen: Ich, der Eselsbach, bin die perfekte Playstation und der bessere Kinderkanal. Mich gibt es offline im Livestream – und man kann mich riechen.
Weiter. Du siehst einen Campingplatz am linken Ufer und leere Strandbad-Parkplätze am rechten. Und dann siehst du die A46. Du siehst sie, weil die Bäume und Sträucher im Februar-Grau noch keine grüne Wand bilden, die mich zur Autobahn hin abschirmt. Teilweise liegen nur rund 50 Meter zwischen Wasser und Verkehr. Aber das stört dich nicht, weil ich dich längst in meinen Bann gezogen habe. Du wunderst dich, wie breit ich mich mache. Du machst Fotos davon, wie sich die Bäume auf meiner Oberfläche spiegeln. Und du machst auch Fotos von dem Teich, in den ein Unterarm von mir hinein- und wieder hinausfließt. Dann siehst du linkerhand den Unterbacher See, und im Vergleich zu mir und dem Teich erscheint er dir gigantisch groß. Du siehst ein Schild, das die hier lebenden Wasservogelarten vorstellt, und du siehst eine Bank mit Seeblick, aber du setzt dich nicht, denn du hast ein Ziel: meine Quelle.
Du folgst also weiter meinem Verlauf, unterquerst die Rothenbergstraße, und danach bist du nicht mehr in Düsseldorf, denn Unterfeldhaus, dessen südlichen Rand ich nun streife, gehört seit 1970 zu Erkrath. Solche Details sind dir zu Recht vollkommen egal. Schließlich hast du gerade den König der Fischer gesehen. Er schießt bachaufwärts, dicht über der Wasseroberfläche. Ein türkisblauer Blitz. Zwischendurch setzt er sich am Ufer auf einen Zweig, und immer, wenn du ein Foto machen willst, fliegt er weiter. Du weißt, wie selten der Eisvogel ist, und schon sein Anblick setzt Glückshormone frei. Wusstest du auch, dass wir quasi Kollegen sind? Er: Vogel des Jahres 2009. Ich: Bach des Jahres 2020.
Der Uferweg ist ein bisschen matschig, weil es am Tag zuvor geregnet hat. Dir fällt auf, dass ich inzwischen abgenommen habe. Etwa zwei Meter messe ich noch, und du könntest mit einem Satz auf die andere Seite springen. Du siehst eine Wiese mit Pferden, einen am Ufer endenden, kreisrunden Wendehammer, und an der Brücke, über die du mich anschließend überquerst, fällt dir einer dieser offiziell-roten „Neandersteig“-Aufkleber auf. Auf ihm steht – als hätte man dich erwartet – die Telefonnummer der Tourist-Info Kreis Mettmann.
Die brauchst du nicht, denn du bist längst auf der Zielgeraden. Einen halben Kilometer musst du nun ohne mich klarkommen. Also fährst du zickzack, der Nase nach, vorbei an einem Bolzplatz und einer massiven Tischtennisplatte, auf die jemand „Fortuna Düsseldorf 1895“ geschmiert hat.
Als nächstes: Die A3 unterqueren und mich wiederfinden. Dazu erst mal rechts abbiegen, da vorne an der Shell-Tankstelle. Ein Wendehammer? Schau dir doch mal den schmalen Pfad bei den Glas-Containern an. Siehst du, da kommt dir ein Spaziergänger mit Hund entgegen. Ja, und weiter vorne schimmere ich zwischen den Bäumen hindurch. Hügelig ist es an meinen Rändern, und ich mache Kurven – so scharf, dass sie der Kö-Graben nicht im Traum hinbekommen würde. Nur ein Problem gibt es: Du darfst mir nicht folgen, denn auf einem Schild des Bergisch-Rheinischen Wasserverbands ist zu lesen, dass mein Ufer in diesem Bereich schnell überflutet werden kann. Aber egal, mit dem Rad kämst du hier sowieso nicht weiter.
Tatsächlich wird es nun ein wenig kompliziert. Du biegst von der Max-Planck-Straße rechts ab, und dann stehst du vor dem Landgasthof Kemperdick. Und du ahnst: Meine Quelle muss hier in der Nähe sein. Schließlich findest du mich wieder, von Bäumen und Büschen verdeckt. Ich unterquere die Straße. Auf der anderen Seite, am Erikaweg, kannst du mich noch mal kurz bewundern – bevor ich im Unterholz verschwinde. Da stehst du nun, und weil dir dein Orientierungssinn jetzt auch nicht mehr weiterhilft, schaust du auf Google Maps – und entdeckst mein unsichtbares „Geheimnis“. Ich habe gar keine Quelle, ich „erfinde“ mich vor deiner Nase, maximal 30 Meter entfernt, in eben dem unzugänglichen Wäldchen, vor dem du stehst und vor lauter Bäumen das Wasser nicht sehen kannst. Die Formel dazu lautet: Sedentaler Bach + Mahnerter Bach + Hühnerbach = Eselsbach.
Du hast noch Fragen? Leg los. Warum ich Eselsbach heiße? Weil entlang meines Ufers vor langer Zeit Sand von Hochdahl über Eller bis hin zum Burgplatz transportiert wurde, und weil damals Esel als Tragetiere am besten mit den schlechten Wegen zurechtkamen. Warum man bei Google nichts über meine Auszeichnung als „Bach des Jahres 2020“ lesen kann? Na ja, weil sich heutzutage jeder irgendwie vermarkten muss und ich mir das einfach so ausgedacht habe. Damit du dich überhaupt für mich interessierst. Klar, das war blöd. Aber ich bin doch nur ein Bach, und Bäche dürfen das. Bleibt unter uns, okay? Ach so: Halb so wild? Weil: Du hast mich auch angeflunkert? Du bist nämlich gar kein Tourist, sondern Düsseldorfer? Und du wolltest bloß schauen, was ich so zu bieten habe. Gut, dann sind wir quitt. Weißt du was: Bei unserem nächsten Treffen lässt du dein Fahrrad zu Hause. Lernst mich zu Fuß kennen. Abschnitt für Abschnitt, so langsam wie möglich. Dann werde ich zumindest dein Bach des Jahres.