Kolumne Der Park (m)eines Lebens

Düsseldorf · Eine etwas andere Tour durch Volksgarten und Südpark – mit ungeahnten Assoziationsketten: Geschwister Scholl und Düsseldorfer Popkultur, Heino und Hugo Egon Balder, Rehgruppe und Antilopen Gang.

Im Südpark, oberhalb des Deichsees: Blick bis in die Innenstadt.

Foto: Sebastian Brück

Hätten wir uns nicht vor dem Geschwister-Scholl-Gymnasium verabredet, so wäre dieser Text vermutlich das geworden, was er eigentlich werden sollte: Eine Art „Zeitreise“ durch Volksgarten und Südpark. 70 Hektar, verbunden mit persönlichen Anekdoten und kollektiven Erinnerungsstationen. Schlittschuhlaufen auf dem Volkgarten-Weiher und Schlittenfahren auf dem Volksgarten-Hügel, als die Winter noch eis- und weißsicher waren. Sommerspaß auf dem Wasserspielplatz und auf der Ballonwiese. Dazu noch ein bisschen Ruderboot-Ausleihen, ein bisschen Bäume-Klettern, eine Prise 1987er Bundesgartenschau und ein paar Zeilen über die Düssel. All das jenseits von „lädt zum Verweilen ein“ und „grüner Oase“. Doch von diesem Pfad bringt uns mein bester Freund P. schon ab, bevor es überhaupt richtig los geht.

Kurzum: Ich warte vor dem corona-verwaisten Schulgebäude, in dem ich vor langer Zeit Abitur gemacht habe. Und P. parkt sein Auto direkt davor. „Warum schreibst du nicht auch über das Geschwister-Scholl-Gymnasium?“, fragt er, während wir die Redinghovenstraße in Richtung des nur 150 Meter entfernen Volksgartens spazieren.

Normalerweise würde ich P. nun erzählen, dass meine Mutter mich Mitte der Siebziger mit ihrem dunkelgelben Renault R4 quer durch den Park zum Kindergarten gefahren hat, und dass ich mich noch genau an den Weg und an die merkwürdige Revolverschaltung des Autos erinnere. P. würde die Stirn runzeln und etwas Doof-Ironisches fragen, zum Beispiel ob wir mit einer Panzer-Version des R4 durch den Park gefräst seien, aber weil er nicht doof ist, würde er trotz seiner Mönchengladbach-Kindheit die Antwort in dem Moment ahnen, in dem ich weiter erzählte: dass es bis zur Bundesgartenschau zwei beziehungsweise drei Straßen quer durch den Volksgarten gab, deren ehemaliger Verlauf heute unsichtbar ist. Zum einen die Leersenstraße am nördlichen Parkende, die eingezwängt zwischen Bahndamm und Düssel vom Hennekamp bis zur Unterführung an der Oberbilker Emmastraße führte und dort abbog, wo früher Kinder am Büdchen ihr Brausepulver kauften und heutzutage Kinderwagen-Eltern an der Florabar ihren Kaffee trinken. Zum anderen die Redinghovenstraße, die bis zu den Bundesgartenschau-Vorbereitungen nicht in einer Sackgasse mit Parkplätzen endete, sondern weiter geradeaus verlief, parallel zum Grenz-Zaun des Stoffeler Friedhofs.

Als die Straßen noch durch den Volksgarten verliefen, hier die Leersenstraße Anfang der 80er.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

Am Sackgasse-Blumenladen, vor dem Seiteneingang des Friedhofs, würden wir uns links halten, und ich würde P. die teilüberdachte Sitzecke zeigen, wo die alten Männer damals Karten und Schach spielten. Viele hatten dabei Zigaretten im Mundwinkel und einige sogar Zigarren. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen – eine Gruppe Senioren, die qualmt, als gäbe es kein Morgen. Als nächstes käme noch ein Abstecher zu der Reh-und-Rehkitz-Statue, von der es Fotos gibt, wie ich als Vierjähriger auf der Rehkitz-Mutter reite. Bei der Gelegenheit würde ich mit meinem neu erworbenen Wikipediawissen „protzen“ – nämlich, dass dieser Bronzeguss „Rehgruppe“ heißt, im Jahr 1910 vom Bildhauer Johann Robert Korn erschaffen wurde und dass es mehrere offizielle „Kopien“ gibt – zum Beispiel eine im Berliner Zoo und seit 1965 eben auch jene im Düsseldorfer Volksgarten.

All das passiert nicht, denn noch haben wir den Park nicht einmal betreten, und zunächst schulde ich P. eine Antwort – und meine Antwort ist eine Gegenfrage: „Was hat der Volksgarten mit meiner alten Schule zu tun?“ Im gleichen Moment fällt mir etwas dazu ein, an das ich ewig nicht gedacht habe: „Okay, ab der siebten Klasse hat unser Sportlehrer den Unterricht manchmal in den Volksgarten verlegt“, sage ich, „erst joggen um den Teich und dann Liegestützen und Trimm-Dich-Übungen auf dem Hügel, und ich weiß noch genau, wer sich jedes Mal als letzter die Anhöhe hinauf quälte.“

P. schüttelt den Kopf und grinst sein möchtegern-überlegenes P.-Grinsen, und dann rückt er raus mit der Sprache: „Also, ich hab´ da was recherchiert.“ Er macht eine Pause. Dann fragt er: „Wusstest du eigentlich, dass deine Ex-Schule eine subkulturelle Hochburg für bekannte Musiker war?“ Mir fällt nur ein „Bekannter“ ein, der aber kein Musiker ist: „War da nicht dieser Autor des Romans Die Feuerzangenbowle, der mit Heinz Rühmann verfilmt wurde?“

Zur Bundesgartenschau in Düsseldorf gehörte auch ein Aussichtsturm.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

P. reagiert gespielt-genervt: „Heinrich Spoerl! Aber der ging im Vorgängergebäude am Fürstenwall zur Schule, das zählt nicht. Da hat übrigens auch der Erfinder von Persil, also dem Waschmittel, sein Abi gemacht…“

Ich setze ein „Na und!?“-Gesicht auf, und während wir – ich weiß gar nicht, warum – irgendwie automatisch dem ehemaligen Redinghovenstraßenverlauf folgen, der jetzt ein normaler Volksgartenfußweg ist, erzählt mein popkulturbesessener Freund P. die Popkultur-Geschichte des Geschwister-Scholl-Gymnasiums. Ich fasse das mal kurz zusammen: 1976 gründen Jürgen Engler, Bernward Malaka und Stefan Schwaab – allesamt Scholl-Schüler – von den Sex Pistols und von The Clash inspiriert die Punk-Band Male. Bei ihrem ersten Konzert in der Schul-Aula verbrennen sie eine Deutschland-Fahne, und der Hausmeister muss mit zwei Wassereimern löschen. Im Publikum ist nur ein einziger Punk zu sehen, mit Sonnenbrille und Stachelhaaren: Peter Hein, der die Konzertankündigung in der Zeitung gelesen hat und drei Jahre später mit den Fehlfarben eines der einflussreichsten Alben der deutschen Popgeschichte veröffentlichen wird („Monarchie und Alltag“). Male spielen 1977 im Ratinger Hof und 1978 bei der Eröffnung des SO36 in Berlin, und 1979 veröffentlichen sie ihre LP „Zensur & Zensur“ – das erste komplett deutschsprachige Punk-Album überhaupt. 1980 lösen sich Male auf, und Engler und Malaka gründen Die Krupps – eine Band, die mit einigen Unterbrechungen bis heute besteht und die weltweite Industrial-Szene beeinflusst.

Am Geschwister-Scholl-Gymnasium formiert sich 1982 eine weitere Punk-Band: Feine Deutsche Art (FDA). 1983 spielen Heiko Baumgarth, Rüdiger Esch, Jörg Kowalczyk und Gerhard Michel ihr Debütkonzert im Vorprogramm der Toten Hosen in der Freizeitstätte Garath. Später, Ende der Achtziger, landet Esch als Bassist sowohl bei den Krupps als auch bei Male (zwischenzeitliche Reunion) – Scholler Schülerband-Connections.

Konzert von Feine Deutsche Art in der Aula des Geschwister-Scholl-Gymnasiums 1983. Links: Rüdiger Esch.

Foto: Rudi Esch

Als wir das „Rhododendrontal“ hinter uns haben und links abbiegen, unterbreche ich P.s Erzählfluss: „Ist alles ganz spannend, aber es soll doch kein Text über Musik werden, sondern einer über Volksgarten und Südpark.“ Eigentlich müsste ich P. jetzt darauf hinweisen, dass wir uns inzwischen auf einer weiteren Straße bewegen, die früher den Volksgarten durchschnitt – dem Stoffeler Kapellenweg, dessen Sackgassenende heute dem ins Grüne eingebetteten Sportverein TG 1881 als Parkplatz dient. Wir würden den Verlauf der alten Straße abschreiten, nachvollziehen, wo sie die (nicht aufgestaute) Düssel überquerte und anschließend in einem Bogen zwischen S-Bahnhof Oberbilk und Philipshalle-Parkplatz auf die Siegburger Straße zulief. Danach würde ich auf das Ziel der Renault-R4-Schleichwege meiner Kindheit zeigen: den immer noch existenten Kindergarten gegenüber der Halle.

Aber so läuft das nicht, denn als mein bester Freund P. die Fassade der ehemaligen Philipshalle (siehe Kolumne Nr. 4, Oktober 2018) zwischen den Baumwipfeln durchscheinen sieht, legt er bei seiner Geschwister-Scholl-Schülerband-Chronik noch einmal nach: „Wusstest du, dass Male 1980 im Vorprogramm von The Clash aufgetreten sind?“ Er zeigt Richtung Halle. „Da vorne!“

Weil er keine Antwort erwartet, bekommt er auch keine. Wir folgen dem asphaltierten Hauptspazierweg des Südparks Richtung Haus Deichgraf, entlang der aufgestauten Düssel-Teiche. Das wäre die Chance, meinem Begleiter das Ruder zu entreißen: Ich könnte erzählen, wie meine Familie als Bilker Anwohner 1987 eine Bundesgartenschau-Dauerkarte bekam, die man 23 Mal nutzen musste, um das Geld zurückzuerhalten. Dann könnte ich P. zeigen, wo der gar nicht mal so niedrige Aussichts-Turm stand, von dem aus man den kompletten Südpark überblicken konnte. Und wo wir schon mal da wären, könnten wir auch noch einen Blick auf den benachbarten Fußballplatz von Schwarz-Weiß 06 werfen, den es schon gab, als der Südpark nicht mal eine Zukunftsvision war. Dabei könnte ich P. erzählen, wie ich hier als rechter Verteidiger mit zehn oder elf Jahren ein oder zwei Mal mit der E- oder D-Jugend von Tusa 06 gespielt habe (Auswärtssieg). Und dass ich erst vor Kurzem erfahren habe, dass der Volksmusik-Heino aus Oberbilk bis zu seinem 18. Lebensjahr als rechter Läufer bei Schwarz-Weiß 06 spielte und dort, weil er so gelenkig war, den Spitznamen „Gummi“ erhielt.

Das wäre noch lange nicht alles: Denn wenn wir gleich die Wiesen-Senke vor dem Deich zum Baggersee erreichen, könnte ich ergänzen, dass ich als Teenager zwar kein Punk war, aber als Buga-Stammgast mal aus Versehen auf eine Sommer-Live-Übertragung der ZDF Hitparade gestoßen bin, moderiert vom Düsseldorfer Viktor Worms. Und dass dabei unter anderem Umberto Tozzi mit „Gente di Mare“ und Jürgen von der Lippe mit „Guten Morgen, liebe Sorgen“ auf der Open-Air-Bühne standen. Nicht zu vergessen den Hitparade-Außenreporter Hugo Egon Balder, der für Radio Luxemburg mit Inga Abel ohnehin fast täglich live vom Buga-Gelände sendete und am Fuße des Buga-Turms als Radschläger-Dompteur in Erscheinung trat.

Aber diese Infos lassen wir mal schön weg, das passt ja gar nicht mehr, nachdem mein bester Freund P. einmal mit dieser Punk-Historie begonnen hat. Immerhin ist mein Einfluss auf unseren Park-Spaziergang noch so groß, dass ich seinen Endpunkt bestimme: der Hügel oberhalb des Deichsees, auf Höhe der Brücke über die A46. Dort setzen wir uns auf eine Bank, mit Horizontblick auf Rheinturm und Innenstadt, und als ich meinem Begleiter zumindest erzählen will, wie es hier in meiner Kindheit aussah – ein chaotischer Mix aus Kleingärten sowie halblegalen Baracken und Werkstätten, der den Zugang zum Ufer schwer bis unmöglich machte –, legt P. erneut los: Zwei weitere Ehemalige des Geschwister-Scholl-Gymnasiums müsse ich unbedingt noch erwähnen. Den Künstler Aron Mehzion, der den derzeit wichtigsten Club der Stadt, den Salon des Amateurs, mitgegründet habe. Und natürlich Koljah von der Rap-Formation Antilopen Gang, die mit dem Album „Anarchie und Alltag“ bis auf Platz eins der Charts gekommen sei. Und falls ich noch auf der Suche nach einer Schluss-Pointe sei, so habe er eine Empfehlung: Der Brandfleck, den die Deutschlandfahne-Verbrennung durch die Geschwister-Scholl-Schüler von Male 1977 auf dem Aula-Parkett hinterlassen habe, sei immer noch zu sehen. Das habe er aus sicherer Quelle erfahren.