Stadt-Teilchen Eine der großen Errungenschaften des städtischen Lebens Baumscheibe – ein Stückchen Grün in der Stadt
Düsseldorf. · Die Baumscheiben in der Stadt werden oft unterschätzt. Eine Verteidigungsrede.
Zu den großen kulturellen Errungenschaften des städtischen Lebens gehört zweifellos die Baumscheibe. Die Rede ist nicht von einem wurstartig zerlegtem Stamm, sondern von dem Terrain, welches in den Straßen Düsseldorfs das umgibt, was sich Baum zu nennen wagt. Man könnte es auch Baumumgebungsgelände oder Pi-pa-po nennen, aber ich finde Baumscheibe ist ein ganz schöner Begriff, weil damit ja gleich deutlich wird, dass man nicht das ganze Stück Stadt bekommt, sondern nur ein bisschen.
Kürzlich erst warb die Stadt wieder um Baumpaten, also um Menschen, die sich um einen speziellen Baum in ihrer Straße kümmern wollen, die ihn bei Trockenheit mit ein paar Gießkannen voller Wasser verwöhnen und um ihn herum den Inhalt eines Blumensamentütchens mit dem tollen Namen „Düsseldorfer Mischung“ ausbringen wollen, auf dass es blühe wie es noch nie zuvor geblüht hat.
Ich habe diese Mitteilung der Stadt zur Kenntnis genommen, sie dann aber irgendwie schnell aus den Augen verloren, weil meine normalen Interessen andere sind. Die Ignoranz hielt lange an, aber dann wurde ich dieser Tage aus der Bahn geworfen, denn der Baum auf der Wupperstraße, an dem ich fast täglich vorbeikomme, den ich mir theoretisch als Pate hätte erwählen können, war auf einmal weg. Hinfort, abgesägt, weggebracht. Warum? Weiß allein das Gartenamt oder sonst wer. Ich könnte nachfragen, aber was ändert das? Geblieben ist ein trostloser Stumpf und die Baumscheibe drumherum.
Ich betrachtete diese verbliebene Scheibe zum ersten Mal ganz genau, und ich fand, dass sie ziemlich verwahrlost aussieht. Da wuchert Gras, da wuchert Gestrüpp, und in der Mitte steht ein Metallbügel, der den Baum einst vor ungeschickten Einparkern schützen sollte, nun aber die ganze Nutzlosigkeit seiner aktuellen Existenz gewahr wird.
Auf jeden Fall war mein Blick geschärft für das Thema Baumscheibe. Ich ging um die Ecke in die Erftstraße und fand noch mehr verwahrloste Baumscheiben. Manche haben ganz offensichtlich noch nie eine sie liebevoll pflegende Hand gesehen.
Dort wuchert das, was der kundige Gärtner wohl allgemein als Unkraut verbucht. Gestrüpp quasi, und mittendrin in diesem Gestrüpp stehen Fahrräder, von denen nicht wenige wohl schon länger dort stehen, weil sie langsam aber sicher vom Gestrüpp überwuchert werden. Gestrüpp kann so gnadenlos sein. Man glaubt das nicht.
Ein paar Meter weiter sieht man deutlich, dass sich dort mal jemand um die Baumscheibe gekümmert hat. Man sieht noch die Spuren liebevoller Pflege, weil das gehegte Areal von Holzplanken umrandet ist. Doch das Innere der Umrandung weist deutliche Schäden auf. Verwahrlosung! Hier kümmert sich niemand mehr, und das schmerzt doppelt, weil man ja so deutlich sieht, dass sich mal jemand gekümmert hat, dies aber nun nicht mehr tut, was letztlich schlimmer ist, als wenn sich nie jemand gekümmert hätte.
Irgendwie scheint das Baumpatenprogramm in der Erftstraße noch nicht auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Ich mache mich daher auf, um in einer Stichprobe auch anderswo zu prüfen, wie es der gemeinen Baumscheibe denn so ergeht, ob ich mich möglicherweise doch für eine Baumscheibenpflegeversicherung einsetzen sollte. In Oberbilk habe ich an diesem Tag ohnehin zu tun, weshalb ich das Dreieck aus Flügel-, Sonnen- und Linienstraße umwandere.
Ich stoße auf große Baumscheiben. Messen diese in der Erftstraße vielleicht zwei mal vier Meter, so umgeben die Bäume hier schon größere Areale. In Sachen Überwucherung können sie den Exemplaren in Unterbilk aber durchaus Paroli bieten. Manche Scheiben in Oberbilk sind derart überwuchert, dass es mich nicht wundern würde, wenn RTL dort das nächste Dschungelcamp veranstaltete. Angesichts des aktuell ausufernden Grüns würde es an manchen Stellen nicht mal jemand mitbekommen, wenn da ein Filmteam samt Kandidaten einzöge.
Kleine Dschungel in der Großstadt – das hat ja durchaus etwas, das bringt die Phantasie in Gang. Auf der Linienstraße ist auch ein ehemal gepflegtes Baumscheibenland zu entdecken. Durchs Gestrüpp ist ein silberner Gartenzwerg auf einem Besenstil zu sehen, daneben ein Vogelhäuschen, aber rundherum eben vor allem wilde Wucherung, die sich schon so selbstbewusst wähnt, dass sie ihre Äste frech in die danebenliegenden Parkplätze streckt.
Auch hier hat sich mal jemand gekümmert, was ja die Frage aufwirft, was aus diesem Jemand geworden ist. Haben er oder sie einfach die Lust verloren? Sind sie vielleicht krank geworden? Durften sie nicht wie sie wollten und wollten deshalb nicht mehr, was sie durften?
Man kommt ins Nachdenken, wenn man sich mit Baumscheiben beschäftigt. So viele Fragen, die ohne Antwort bleiben, die aber immer noch besser sind als das Betrachten von Baumscheiben ohne Baum. Auch an der Linienstraße hat es mal einen Baum gegeben, aber nicht einmal ein Stumpf legt noch Zeugnis seiner einst grünen Existenz ab, nur das, was ihn einst umgab, erzählt eine Geschichte: das wuchernde Grün, die zwei Metallbügel am Rand. Irgendwie ähnelt das dem architektonischen Prinzip eine Friedhofs. Fehlt nur noch eine Platte, auf der steht, dass hier einst mein Freund, der Baum stand, einer der sich lange gewehrt hat gegen all die Abgase und die Pilze und die pinkelnden Hunde. So lange ist er standhaft geblieben, aber dann kam der Sturm und riss ihn hinweg.
Ob es so war? Egal. Wichtig ist ja allein, dass man das mal wahrnimmt. Ich habe mir vorgenommen, das in Zukunft häufiger wahrzunehmen, hinzuschauen, wohin das Verwahrlosenlassen führt, bevor es als Menetekel an meine Lebenswand geschrieben wird. Helft dem gemeinen Straßenbaum, begrünt die Baumscheiben. Vielleicht bestelle ich mir mal ein Tütchen von der Düsseldorfer Mischung. Vielleicht schneide ich mir eine Baumscheibe von meiner eigenen Erzählung ab. Wer weiß?