„Frühlings Erwachen“ ohne Tabus

Theaterprojekt der Bürgerbühne nach dem Stück von Frank Wedekind holt Jugendliche und Eltern auf die Bühne des Central.

Foto: Melanie Zanin

Es geht um das erste Mal. Den ersten leidenschaftlichen Kuss, die erste Liebe, den ersten Sex. So fassen Lukas Pitz (15), Rosa Schulz (18) und Fynn Steiner (18) einige Themen ihres Theaterprojekts „Frühlings Erwachen“ zusammen. Die drei Gymnasiasten gehören zu den 18 Darstellern im neuen Stück der Bürgerbühne. In Anlehnung an die gleichnamige „Kindertragödie“ (so der Untertitel) von Frank Wedekind, die 1906 an den Berliner Kammerspielen uraufgeführt wurde, haben sie seit April daran gearbeitet. Premiere ist am Freitag im Central. Geprobt wurde in den Sommer- und Herbstferien, sonst in der Freizeit. Nur jetzt, die Woche vor der Erstaufführung, sind die Schüler vom Unterricht befreit.

Und verstehen sich blendend mit der Leiterin Joanna Praml, die bereits mit dem Bürgerbühnen-Stück „Sommernachtstraum“ (ebenfalls mit Jugendlichen) Furore machte und für den deutschen Theaterpreis „Faust“ nominiert wurde. Wie schon für den ‚Sommernachtstraum’, so hat Praml, selbst Mutter von zwei Kindern, erneut Interviews geführt mit den 14 Jungen und Mädchen im Alter von 11 bis 18. Und mit den vier Müttern (drei davon sind Mütter von jungen Darstellern). Aussagen der Laiendarsteller fließen erneut ein in die von Praml geschaffene Spielfassung.

Wie Lukas, Rosa und Fynn, so hatten sich alle Teilnehmer(innen) gemeldet und mussten ein Casting in mehreren Runden durchlaufen. Und wurden ausgewählt. Glücklich sind die drei und meinen, die Proben hätten sie verändert — die Einstellung zum Theater, zu ihren Eltern und Lehrern. Rosa berichtet, dass sie ihre Mutter und ihre Probleme jetzt besser verstehe, von ihr Ratschläge annehme und zu ihr ein freundschaftliches Verhältnis habe. Die junge Schülerin eines Gerresheimer Gymnasiums, die im Frühjahr ihr Abi macht, hatte zwar vorher nie ein Theater von innen gesehen. Jetzt ist sie so begeistert, dass sie in den letzten Monaten drei Mal pro Woche ein Stück im Central gesehen hat und schon nach Monologen und Texten Ausschau hält, um sich nach dem Abitur an einer Schauspielschule zu bewerben.

Zurück zum „Frühlings Erwachen“. In dem gesellschaftskritischen Drama erzählt Wedekind (1864-1918) die Geschichte mehrerer Jugendlicher, die in der Pubertät und der damit verbundenen sexuellen Neugier mit psychischer Instabilität und Intoleranz der Erwachsenen konfrontiert sind. Der Autor kritisiert in seinem bereits 1891 verfassten Drei-Akter die bürgerliche Sexualmoral der Wilhelminischen Ära, die zahlreichen Tabus, wie Homosexualität und Schwangerschaft einer Schülerin. Ebenso den immensen Druck, unter dem pubertierende Jugendliche standen und, manche zumindest, zugrunde gingen. Wegen angeblicher Obszönitäten (wie der berühmten Masturbations-Szene einer Jungengruppe) wurde das Stück damals verboten, hat es aber längst ins Klassenzimmer geschafft und gehört heute in einigen Bundesländern zur Schullektüre. Eine Musical-Inszenierung am Broadway wurde 2007 gar mit sieben Tony Awards ausgezeichnet.

Rosa Schulz, Schülerin, zu Frank Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“

Der Druck von den Lehrern und Eltern, ein ‚guter Jugendlicher’ zu sein. Das sei heute ähnlich wie vor 100 Jahren, erzählen die drei. Der permanente Stress wegen guter Noten, Partys und Trinkspielen (Koma-Saufen). Für Rosa geht es dabei um „Selbstfindung“, an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Sauf-Geburtstagen. Wenn sie Wedekinds Original auch nicht nachspielen, sondern sich von ihm entfernen, so meint sie doch: „Die Schüler im Original sind noch krasser als wir heute.“ Zum Thema Sex sagen die Jugendlichen: Durch Youtube und andere Anbieter sehen heute viele Jugendliche zuerst einen Pornofilm und haben dann Sex. In der Elterngeneration sei das noch umgekehrt gewesen.

Erstaunlich freizügig sprechen die drei über persönliche Erfahrungen und Konflikte in der Schule und im Elternhaus. Das stellte Joanna Praml schon bei ihren Vorgesprächen fest. „Sie geben viel von sich preis.“ Doch können auch sicher sein; denn Eins zu Eins werden ihre Biografien nicht auf der Bühne verhandelt. Vielmehr mischen sich die Geschichten der 14 Jugendlichen mit Fiktion. Das ist eines der Prinzipien der Bürgerbühne — ein Format, das auch unsere drei Gesprächspartner begeistert und manchen sogar neue Berufsperspektiven eröffnet.