Düsseldorf Klein-Marokko kämpft für seinen Frieden — und Ruf
Das Viertel rund um die Ellerstraße ist als Treffpunkt krimineller Banden aus Nordafrika verschrien. Die Händler vor Ort — die meisten selbst aus Marokko — wehren sich jetzt.
Düsseldorf. Gleich hinter der S-Bahnbrücke an der Ellerstraße beginnt Düsseldorfs Marokko. Über dem Schaufenster eines Ladens steht „Call-Shop, Internet, Friseur“, gleich daneben die bunte Gemüseauslage eines Supermarktes, ein Schild verspricht: „Metzgerei — Helal“. Der nächste Markt ist nur drei Häuser weiter, auch hier flattert das Wort „Halal“ auf der orangenen Markise. Dann ein Café, ein weiterer Supermarkt, ein Orient-Laden mit silbernen Teekesseln und arabischer Musik, gegenüber eine Shisha-Lounge. Kopftuch und Djellaba — das lange Gewand aus den Ländern des Maghreb — gehören zum Straßenbild.
Mehr als 12 600 Menschen aus Marokko lebten laut Amt für Statistik 2010 in Düsseldorf — nach Türken und Polen die größte Migrantengruppe. Und dieses Viertel rund um Ellerstraße, Vulkan-, Lessing-, Linien- und Querstraße ist ihr Zentrum. Der Name Klein-Marokko hat sich eingebürgert. Er stand jahrelang für günstiges frisches Gemüse, arabisches Gebäck und süßen Tee — für die NRW-Landeshauptstadt als Metropole mit internationalem Flair. Bis die Existenz von „Projekt Casablanca“ durchsickerte. Eine Analyse der Polizei über ein riesiges Netzwerk von mehr als 2200 nordafrikanischen Kriminellen, denen Klein-Marokko als Treffpunkt und Rückzugsort dienen soll. Seither lebt das Viertel im Scheinwerferlicht. Bundesweit verschrien, fast schon eine neue No-Go-Area. Den Menschen hier — viele von ihnen selbst aus Nordafrika — ist das ganz recht. Denn sie kämpfen seit Monaten gegen diese Entwicklung.
„Es ist der Wahnsinn“, beschreibt Badr Haddad aus Marokko, was in seinem Viertel vor sich geht. Schlägereien, Drogenhandel, Diebstähle. Aus dem Fenster seines Restaurants „La Grilladine“, das er vor drei Jahren am Dreiecksplatz eröffnet hat, beobachtet er viel. „Die Polizei weiß Bescheid, was hier passiert. Aber sie können wenig tun — man kann diese Kriminellen ja kaum abschieben.“
Abschiebung. Dieses Wort ist derzeit in Klein-Marokko allgegenwärtig. Den Menschen hier scheint es leichter über die Lippen zu gehen als jener Mehrheit der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, die zuwanderungsfreundlich denkt und so auch wahrgenommen werden will. „Die Gesetze müssen sich ändern“, findet Mohamed Alabdouni, ebenfalls Marokkaner. Seit 20 Jahren führt er seinen Nador-Supermarkt in der Linienstraße, der für seine riesige Fisch- und Fleischtheke in ganz Düsseldorf bekannt ist. „In den vergangenen Jahren ist es hier unangenehm geworden“, sagt Alabdouni.
Das Zusammentreffen mit dem 42-Jährigen, der bereits mit vier Jahren nach Deutschland gekommen ist, ereignet sich an der Ecke Ellerstraße/Willi-Becker-Allee. Er folgt einem jungen Mann, der drei Einkaufstüten mit sich herumschleppt und daraus Passanten offenkundig Waren anbietet. Das kommt Alabdouni verdächtig vor. Wie Thomas Stephan, der dem jungen Mann ebenfalls auf den Fersen ist — die Polizei schon am Handy: „Ja hallo, Stephan mein Name. Ich glaube, hier läuft gerade ein Hehler-Deal ...“ Er hebt die Hand und grüßt den marokkanischen Supermarktbesitzer. Die beiden treffen sich nicht zum ersten Mal bei einer solchen Verfolgung durchs Quartier.
Thomas Stephan ist an der Ellerstraße aufgewachsen; seinen Großeltern gehörte in der Hausnummer 58 eine Metzgerei — vermutlich noch nicht Halal. Jetzt hat er dort seine Anwaltskanzlei, darüber seine Wohnung. Er hatte gehofft, dass Klein-Marokko irgendwann zu einem zweiten Flingern würde. „Es sah auch wirklich eine ganze Zeit so aus — zentral, viele junge Leute.“ Doch jetzt prägten Dealer und Hehler das Bild — die einen mit weißen Schals als Erkennungszeichen, die anderen in Rot. „So vor einem Dreivierteljahr ist es richtig schlimm geworden“, meint Stephan.
Einig sind er und Mohamed Alabdouni darin, dass die Kriminellen nicht aus dem Viertel kommen — sondern aus Städten in ganz NRW. Wieso? „Die Ellerstraße ist bekannt“, sagt Alabdouni. „Selbst in unserer Heimat kennt sie fast jeder.“ Durch die gemeinsame Sprache und Kultur, so glaubten die Täter wohl, hätten sie hier leichtes Spiel.
Was nicht so ist, sagt Jamal Sarji. Der Palästinenser führt seit 24 Jahren die Bahnhof-Apotheke an der Ellerstraße. „Sie fallen hier auf“, sagt er. Schließlich kenne man sich im Viertel — er grüßt eine Kundin mit Namen und hält ihr die Tür auf. „Nein, nein, das sind Leute von außen. Seit acht, neun Monaten ist es massiv zu spüren.“ Er selbst rufe jeden Tag mindestens zwei Mal die Polizei. Ebenso wie Thomas Stephan und Mohamed Alabdouni.
Jetzt hat die Situation Sarji auch eine Mitarbeiterin gekostet: Eine junge Muslima wollte nicht mehr an der Ellerstraße arbeiten, weil sie sich ständig von Dealern belästigt fühlte. Sie kündigte. Badr Haddad vom Restaurant „La Grilladine“ berichtet zudem, die Frau eines Freundes sei vor Kurzem beinahe im Hauseingang vergewaltigt worden. „Ich habe jetzt schon öfter gehört, dass hier Frauen abends verfolgt und angefasst werden“, bestätigt auch Anwalt Stephan.
Verschärft sich die Problemlage in Klein-Marokko? Wird das Pflaster gefährlicher für Frauen? Es ist eine brisante Frage, denn die Polizei schließt nicht aus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Übergriffen auf Frauen in Köln und Düsseldorf in der Silvesternacht und dem gigantischen Verdächtigenkreis aus dem „Projekt Casablanca“. Diesem diene Klein-Marokko als „soziales, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum“, hieß es aus dem Präsidium schon vor einem Jahr nach einer Großrazzia rund um die Ellerstraße, bei der gleich 15 Verdächtige festgenommen wurden.
Inzwischen wird es dunkel an der Ellerstraße — und gegenüber der Bahnhof-Apotheke fahren wieder zwei Polizeiwagen vor, kontrollieren Beamte zwei junge Männer. Die Stimmung auf der Straße verändert sich in Nuancen, aber spürbar. Auch vor dem Nador-Supermarkt an der Linienstraße. Zunächst geht ein Mann vorüber und nickt lächelnd, selten in der Großstadt; ein Autofahrer bremst und winkt eine ältere Dame mit Rollator über die Straße. Dann aber einige Meter weiter: Ein junger Mann sieht unsere Kamera, zieht sich die schwarze Kapuze tief ins Gesicht und blickt finster; kurz darauf ein kleines Handgemenge, zwei junge Typen werden aus einem Laden geworfen. Vermutlich wird gleich der nächste Streifenwagen um die Ecke biegen.
„Die aktuell sehr hohe Polizeipräsenz ist auch dem hohen Hinweisaufkommen geschuldet“, erklärt Markus Niesczery, Sprecher im Düsseldorfer Präsidium. „Die Leute sind zusätzlich sensibilisiert.“ Allerdings widerspricht Niesczery der Aussage, dass die Delinquenten niemals aus dem Viertel selbst, sondern ausschließlich von außerhalb kämen. „Es ist beides“, sagt er. Er stützt sich auf umfassende Erkenntnisse der Düsseldorfer Ermittler: „Wir haben seit Monaten dort Einzel- und Gruppenkontrollen gemacht.“
Mit der Arbeit der Polizei sind Mohamed Alabdouni und seine Mitstreiter für mehr Frieden in Klein-Marokko zufrieden. Aber: „Manchmal rufe ich die Polizei, sie nimmt jemanden mit — und zwei Stunden später ist er wieder da.“ Seine persönliche Erfahrung bestätigt Äußerungen von NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, dass gerade Algerier und Marokkaner selbst im Falle einer Verurteilung fast unabschiebbar sind, weil sie von ihren Heimatländern einfach nicht aufgenommen werden.
Der Abend hat begonnen, und im „La Grilladine“ sitzt eine lustige Mischung aus Herrn beim Tee, jungem Hipster, Oma und Mama mit zwei kleinen Kindern beisammen — und zwei junge Marokkanerinnen, die eine Tajine, den berühmten Schmortopf aus ihrer Heimat, essen. Aus Derendorf sind sie zum Essen gekommen. „Aber wir gehen immer außen ums Viertel rum“, erklärt die eine. „Man wird schon oft von Männern angemacht hier.“
Restaurantbesitzer Badr Haddad schaut auf das große Wandbild aus seiner früheren Heimat. 2003 kam er als Student nach Düsseldorf, er spricht Deutsch fast akzentfrei. „Es macht mich so wütend“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Ich versuche, hier ein schönes Bild von Marokko zu vermitteln. Und die machen alles kaputt!“